Interview

„Das Versprechen von einer besseren Zukunft“: (Spät-)Aussiedler:innen und der deutsche Arbeitsmarkt

Arbeit spielt vermutlich in jedem Leben eine große Rolle. Im Leben von Migrant:innen aber spielt sie eine noch bedeutendere: Arbeit zu haben oder nicht, sie wechseln zu können oder nicht, Informationen über seine Rechte zu haben oder nicht, als Bewerber:in in Frage zu kommen oder nicht, überhaupt arbeiten zu dürfen oder eben nicht – all das kann sehr schnell existenziell werden. Und entscheidend dafür, wie gut man im neuen Land ankommt.

Bei Russlanddeutschen denke ich, wenn ich an Arbeit denke, auch an Zwangsarbeit, an die Trudarmija, die Arbeitsarmee (ein Euphemismus). Hunderttausende wurden erst deportiert, vor allem nach Kasachstan und Sibirien, und dann zu Schwerstarbeit gezwungen: nach Kohle graben, Eisenbahnstrecken bauen, Bäume fällen. Jede russlanddeutsche Familie kennt diese Geschichten. Arbeit heißt Überleben: zuerst das Arbeitslager, dann die leeren Regale und die Willkür des Sowjetregimes. Arbeit heißt im russlanddeutschen Kontext auch Arbeit am Haus, im Garten, die Einmachgläser müssen gefüllt sein. Und Arbeit heißt sich abgrenzen. Durch besonderen Fleiß und Anstrengungen bis zur Selbstaufgabe wurde und wird etwas geehrt, das man für deutsches Brauchtum hält. Fährt man heute in die ehemals deutschen Siedlungen in Kasachstan, hört man oft: „Alles heruntergekommen, so ordentlich und sauber wie damals bei den Deutschen ist es nicht mehr!“ Fährt man in manch eine Siedlung der Russlanddeutschen in Deutschland, sieht man: gearbeitet wird zuallererst, um ein Haus zu bauen. Und dann das des Bruders und der Schwester. Arbeit, Eigentum, Sicherheit – dann ist man wirklich angekommen. Und die Kinder werden es mal besser haben. Das große Versprechen der Migration.

Viele Russlanddeutsche haben sich den Traum vom Haus erfüllt, ja fast erzwungen, mit prekären Jobs, notfalls mehreren. Nicht alle, klar. Trotzdem ist das Eigenheim ein zentrales Topos russlanddeutscher Kultur. Und wir Kinder, die zweite und dritte Generation, mit unseren Bürojobs, Projekten, flexiblen Stellen, für die das Versprechen von einer besseren Zukunft in Erfüllung gegangen ist: Könnten wir überhaupt so hart arbeiten? Wir müssen es nicht. Das ist der Unterschied.

Als ich einmal für einen Text recherchierte, in dem es um die Frage ging, was es braucht, um in einem neuen Land anzukommen, sagten die meisten meiner russlanddeutschen Gesprächspartner:innen: Arbeit und Sprache. Als die Russlanddeutschen in großer Anzahl nach Deutschland kamen, ab den 1990er Jahren, fehlte den meisten die Sprache. Sie nahmen die Jobs, die sie bekamen. Wer eine technische Ausbildung hatte, konnte sie hier womöglich nutzen. Akademiker:innen, deren Abschlüsse meist nicht anerkannt wurden, landeten oft in prekären Jobs, für die keine Qualifikation nötig war: Kassiererin, Putzfrau, Pflegekraft – das sind die Klassiker.

Viele Russlanddeutsche haben sich den Traum vom Haus erfüllt, ja fast erzwungen, mit prekären Jobs, notfalls mehreren. Und wir Kinder, die zweite und dritte Generation, mit unseren Bürojobs, Projekten, flexiblen Stellen, für die das Versprechen von einer besseren Zukunft in Erfüllung gegangen ist: Könnten wir überhaupt so hart arbeiten? Wir müssen es nicht. Das ist der Unterschied.

 

(Spät-)Aussiedler:innen und der deutsche Arbeitsmarkt

Der Migrationsforscher und Historiker Jannis Panagiotidis zitiert in seinem Buch „Postsowjetische Migration in Deutschland“ eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung aus den 1990er Jahren: „Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland wird von den Aussiedlern um den Preis des beruflichen Abstiegs erkauft“. Panagiotidis weist zurecht darauf hin, dass das kein Spezifikum der Russlanddeutschen sei, auch den jüdischen Kontingentflüchtlingen und anderen Migrantengruppen erging es so. Es ist ein Deal, den viele eingehen, die aus bestimmten Ländern nach Deutschland einwandern: Herabstufung gegen relative Sicherheit und relative Chancen für die nächste Generation.

Russlandddeutsche Männer sind im produzierenden und im Baugewerbe überrepräsentiert, russlanddeutsche Frauen im Dienstleistungssektor, allerdings weniger in der Verwaltung als zum Beispiel an der Supermarktkasse. Der Anteil der Erwerbslosen lag bei den Spätaussiedler:innen 2018 bei 3,7 Prozent, im Vergleich zu 2,6 Prozent bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund also nur leicht erhöht. Der Anteil der Selbstständigen ist im Vergleich zu anderen Migrantengruppen und der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund viel geringer, was interessant ist. Es könnte daran liegen, dass die Berufe, die die Russlanddeutschen mitbrachten, sich kaum für die Selbstständigkeit eigneten. Oder daran, dass im Sozialismus so gut wie niemand die Erfahrung gemacht hatte, sein:e eigene:r Chef:in zu sein.

Der Migrationsforscher Jannis Panagiotidis weist zurecht darauf hin, dass der berufliche Abstieg kein Spezifikum der Russlanddeutschen sei, auch anderen Migrantengruppen erging es so. Es ist ein Deal, den viele eingehen, die aus bestimmten Ländern nach Deutschland einwandern: Herabstufung gegen relative Sicherheit und relative Chancen für die nächste Generation.

Insgesamt lässt sich laut der statistischen Analyse von Jannis Panagiotidis festhalten: Spätaussiedler:innen partizipieren immer mehr am Arbeitsmarkt, die Arbeitslosigkeit sinkt, das Einkommen steigt langsam an und liegt inzwischen bei mehr als 75 Prozent des Durchschnittseinkommens. Doch obwohl die russlanddeutsche Mittelschicht mit den Jahren immer stabiler wird, bleibt auch das Armutsgefährdungsrisiko erhöht. Und die Auswirkungen der Corona-Pandemie werden vor allem die treffen, die in prekären und gering bezahlten Berufen arbeiten, also vor allem Migrant:innen und vor allem Frauen.

Viele Schreckenszenarien der 1990er Jahre haben sich in Luft aufgelöst, zum Beispiel das der Russlanddeutschen, die dem deutschen Staat auf der Tasche liegen. Ankommen dauert seine Zeit, auch auf dem Arbeitsmarkt. 30 Jahre nachdem Millionen von Migrant:innen aus dem postsowjetischen Raum nach Deutschland eingewandert sind, ist auch klar, das viel Potential verschenkt worden ist, vor allem das von hochqualifizierten Frauen.

Russlanddeutsche Frauen häufig überqualifiziert

Wie ergeht es den Russlanddeutschen, die heute ankommen? Alexandra Leipold leitet das Referat „Grundsatzfragen und Integration“ bei der Otto-Benecke-Stiftung. Sie sagt: „Die Anerkennung der Berufsabschlüsse aus dem Ausland hat sich inzwischen professionalisiert, aber Russlanddeutsche landen trotz sehr guter Qualifizierung – viele von ihnen sind Akademiker und Akademikerinnen – weiterhin vor allem in Berufsfeldern, für die eine geringe Qualifikation notwendig ist“. Und das, obwohl die Gruppe große Potentiale mitbringt. Leipold sagt, das liege daran, dass die Anerkennung der Abschlüsse immer noch zu lange dauere, die bürokratischen Hürden zu hoch seien und eine Gleichstellung anhand der tatsächlichen Qualifikation auf dem deutschen Arbeitsmarkt nur sehr schwer zu erreichen sei. Schaut man zum Beispiel das Jahr 2019 genauer an, sieht man: Von den insgesamt 4300 erwerbstätigen Spätaussiedler:innen und ihren Angehörigen landeten 2665 im Dienstleistungssektor. Davon sind 893 Personen – darunter 663 Frauen – in Organisations-, Verwaltungs- oder Büroberufen angestellt. 822 Personen im handwerklichen und 694 im technischen Bereich. Leipold weist darauf hin, dass vor allem bei den 663 Frauen viele überqualifiziert seien.

„Die Anerkennung der Berufsabschlüsse aus dem Ausland hat sich inzwischen professionalisiert, aber Russlanddeutsche landen trotz sehr guter Qualifizierung – viele von ihnen sind Akademiker und Akademikerinnen - weiterhin vor allem in Berufsfeldern, für die eine geringe Qualifikation notwendig ist“​

Wird der Abschluss als gleichwertig bestätigt, machen viele Russlanddeutsche die Erfahrung, dass das nur auf dem Papier gilt. Zwar haben viele von ihnen im Bewerbungsverfahren im Vergleich zu anderen Migrant:innen gewisse Vorteile, deutsche Nachnamen beispielsweise, aber auch der trägt sie nicht bis zu einer geeigneten Stelle. Alexandra Leipold sagt: „Der Arbeitsmarkt sucht nach einer eher homogenen Arbeitnehmerschaft, weil die scheinbar Sicherheit garantiert. Das ist meiner Meinung nach sehr deutsch. Es wird auf formale Dinge geachtet: der Abschluss, die Praktika, die Auslandserfahrung. Diese Formalitäten weisen neu zugewanderte Russlanddeutsche meistens nicht auf, ihre Biografien verlaufen anders.“ Ein weiteres Hindernis sei, dass sich Russlanddeutsche oft bei großen Unternehmen bewerben. Dort sei zwar die Offenheit gegenüber Migrant:innen größer, aber die Konkurrenz ist es auch, was letztlich wieder dazu führen kann, dass eher eine Person mit deutschem Abschluss und großem Selbstbewusstsein zum Zug kommt. „Die Kenntnis darum, dass man in kleinen oder mittelständischen Unternehmen auch sehr erfolgreich einsteigen kann, ist oft nicht vorhanden. Dabei sind das oft Familienunternehmen, die auch von den Werten her gut zu vielen Russlanddeutschen passen“, sagt Leipold.

Ein Mangel an Informationen, auch mehrsprachigen Informationen, geringe Flexibilität bei der Auswahl von Bewerber:innen und ein zu langsames Verfahren bei der Anerkennung von Abschlüssen führen noch immer dazu, dass Potentiale, die Russlanddeutsche in dieses Land bringen, verloren gehen. Alexandra Leipold betont einen weiteren Grund: die „spezifische Identitätsproblematik“. „Russlanddeutsche haben keinen klassischen Migrationshintergrund. Sie sind deutschstämmig, aber gleichzeitig Zuwanderer aus den Staaten des ehemaligen Ostblocks und sprechen Russisch. Das versetzt sie in eine besondere Situation, über die sich die Aufnahmegesellschaft überhaupt nicht im Klaren ist. Die Diskriminierungserfahrungen sind andere und die spezifischen Probleme sind auch andere. Bei den Russlanddeutschen führt die doppelte Identität oftmals dazu, dass sie in ihrem Selbstbewusstsein, darin wie sie auftreten und ihre Potentiale darstellen, eher zurückhaltend sind. Es ist eher so: Ich möchte gar nicht gesehen werden, ich möchte nicht auffallen. Das ist furchtbar schade.“

„Der Arbeitsmarkt sucht nach einer eher homogenen Arbeitnehmerschaft, weil die scheinbar Sicherheit garantiert. Das ist meiner Meinung nach sehr deutsch. Es wird auf formale Dinge geachtet: der Abschluss, die Praktika, die Auslandserfahrung. Diese Formalitäten weisen neu zugewanderte Russlanddeutsche meistens nicht auf, ihre Biografien verlaufen anders.“

Durch das zurückhaltende Auftreten rutschten Russlanddeutsche eher zufällig in den Arbeitsmarkt oder landeten über ein Netzwerk von Verwandten in einem Unternehmen, sagt Leipold. „Und da ist dann oft nicht bekannt, dass man sich auch hocharbeiten und Karriere machen kann.“ Aus der doppelten Identität ergebe sich laut Leipold aber noch ein weiteres Hindernis: Ein zu hoher Anspruch an sich selbst. „Es wäre kein Problem zu sagen: Ich kann die Sprache noch nicht so gut, kannst du mir da helfen? Da gibt es ganz viel Empathie bei der Aufnahmegesellschaft, die aber dadurch kolportiert wird, dass Russlanddeutsche oft lieber nichts sagen, bevor sie, als Deutschstämmige, einen Fehler machen. Und das führt wiederum zu Distanz. Es ist nämlich nicht mehr so wie in den 90ern. Manchmal denke ich, wenn die Russlanddeutschen nur wüssten, dass auch Verständnis auf Seiten der Aufnahmegesellschaft zu Sprach- und Kommunikationsproblemen besteht. Sie könnten davon profitieren!“.

Außerdem zeigten bestimmte Ausbildungswege und Arbeitsmarktinstrumente, dass Sprache und Arbeit, die zwei Ressourcen, die Migrant:innen zu Beginn am meisten fehlen, nicht chronologisch erworben werden müssten. Erst die Sprache, dann der Job. Eine Kombination der beiden sei laut Leipold erfolgsversprechender. Leipolds Fazit ist ernüchternd: „Fleiß ist das Stichwort, das mir bei den Russlanddeutschen einfällt. Es wird viel gearbeitet, viel gelernt. Man ist sehr ehrgeizig und landet trotzdem dort, wo man nicht hinmöchte.“ Bei der zweiten Generation ist das oft anders. „Am liebsten soll die Tochter Anwältin und der Sohn Arzt werden“, sagt Leipold, so habe sie es oft im Gespräch mit Russlanddeutschen gehört. „Die Bildungsaffinität ist extrem hoch, viel höher als bei Eltern ohne Migrationshintergrund. Ob die Kinder es schaffen, hängt aber auch viel davon ab, wie gut es den Eltern gelingt, sie zu unterstützen. So durchlässig wie es oft heißt, ist das deutsche Bildungssystem leider nicht“.

Text: Viktoria Morasch

Foto: Privat

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