Interview

Was ist Heimat für dich, und wenn ja, wie viele?

Mit fünf Jahren verließ Helena Kaufmann gemeinsam mit ihrer Familie Kasachstan. Seitdem lebt sie in Deutschland und ist heute Journalistin, unter anderem produziert sie einen Podcast für den WDR. Hinter dem Titel „Heimatmysterium“ verbirgt sich ihre Suche nach Heimat, nach Identität, nach Zugehörigkeit. Das Ergebnis: Sie möchte und muss sich nicht festlegen. Im Gespräch erzählt sie, wie sie zu dieser Erkenntnis kam, was ihre Generation von der ihrer Eltern unterscheidet, und welche Hoffnungen sie in eine postmigrantischen Community hat.
Foto: Marianna Deinyan

Was verstehst du unter dem Begriff „Heimatmysterium“ und wieso habt ihr euren Podcast so genannt?
2018 wurde das Heimatministerium ins Leben gerufen – von einem Mann, der sich an seinem 69. Geburtstag darüber gefreut hat, dass 69 Menschen nach Afghanistan abgeschoben wurden. Wir haben uns gefragt, was dieses Heimat-Ministerium für uns alle bedeutet. Ob Horst Seehofer jede oder jeden Vierten in diesem Land, der oder die eine Migrationsgeschichte hat, mit meint. Ich finde, es ist in Ordnung, eine eigene Definition von Heimat zu haben. Es ist aber problematisch, wenn man mit dem Begriff Politik macht. So sind wir dann von Heimatministerium zu Heimatmysterium gekommen.

Hast du im Laufe eures Podcasts auf der Reise oder der Suche nach Heimat für dich herausfinden können, was du als Heimat verstehst?
Obwohl wir diese Frage trotz des Titels sehr selten in unserem Podcast stellen, wird sie mir interessanterweise sehr oft gestellt. Heute habe ich eine Definition, die sich aber morgen ändern kann. Ich habe gemerkt, dass Heimat für mich nicht Singular ist. Sie ist immer Vieles gleichzeitig und immer ein Gefühl, welches sehr schemenhaft ist und sich ändern kann. Aber sie ist nicht irgendetwas, das sich hinter Grenzen still verhält.

Heimat ist also etwas Diffuseres für dich. Vermisst du manchmal, dir etwas Konkretes darunter vorstellen zu können? So wie andere Personen manchmal einen festen Ort haben, von dem sie sagen, das ist ihre Heimat.
Ich glaube, diesen Struggle hatte ich einmal. Jetzt sehe ich es eher als Vorteil, dass ich mehr Identitäten und Heimaten habe. Deshalb vermisse ich es aktuell nicht.

In deinem Podcast erzählst du in der ersten Folge sehr persönlich von dir und der Migrationsgeschichte deiner Familie. War es schwierig für dich, das öffentlich zu tun?
Natürlich freue mich über jede und jeden, der oder die den Podcast hört. Aber es ist nicht so, dass ich mir die tausend Personen vorstelle, die sich den Podcast anhören. Ich bin immer noch sehr anonym mit meiner Geschichte. Dass ich meine Geschichte für mich, als auch öffentlich festgehalten habe, finde ich schön. Es ist etwas, was bleibt. Allzu schwer ist es mir nicht gefallen. Dennoch habe ich mehrere Ansätze gebraucht, weil mich diese Geschichte doch schon sehr getroffen und emotionalisiert hat. Beim Aufnehmen musste ich oft abbrechen, weil ich geweint habe. In der ersten Folge schluchze ich oft, da lasse ich den Hörer beziehungsweise die Hörerin ja sehr nah an mich ran – manchmal auch zu nah. Da musste ich ein bisschen runterfahren, um die Leute nicht zu überfordern. Aber am Ende fand ich es sehr schön, dass ich meine Geschichte mit so vielen teilen konnte, ich habe auch sehr viel Feedback bekommen. Viele Personen konnten sich damit identifizieren – nicht nur Leute, die eine ähnliche Migrationsgeschichte haben und aus den ehemaligen Sowjet-Staaten kamen, sondern auch andere Migrationsgruppen.

Ich finde, es ist in Ordnung, eine eigene Definition von Heimat zu haben. Es ist aber problematisch, wenn man mit dem Begriff Politik macht.

Ich nehme an, du musstest dafür auch recherchieren und Gespräche mit Familienmitgliedern führen. War es dort auch so ein emotionales Thema?
Ich spreche viel mit meiner Mutter darüber, weil ich sehr neugierig bin, was das angeht. Leider habe ich Probleme damit, mich an die Zeit in Kasachstan zu erinnern. Deshalb habe ich den Wunsch, die Dinge zu besprechen und festzuhalten. Wir haben beide gemeinsam, dass wir schwierige Momente in unserem Leben, Momente, die mit Schmerz verbunden sind, oft wie einen Lebenslauf runterrattern. Es sind dann einfach nur Fakten, die nicht mit Emotionen und Gefühlen geschmückt sind, die unverschönt sind. Dadurch schaffen wir Abstand. Deswegen werden die Emotionen erst zugelassen, wenn es in einem Gespräch weiter in die Tiefe geht.

Das kommt mir bei anderen Russlanddeutschen ein bisschen bekannt vor. Siehst du das auch bei anderen Russlanddeutschen, dass sie ihre eigene Migrationsgeschichte noch nicht ganz verarbeitet haben?
Ich kann nicht für alle sprechen, aber in meiner Familie ist es so, dass man nicht viel über Emotionen spricht. „Das war einfach so“ – ist ein Satz, der oft fällt, wenn über Vergangenes gesprochen wird. Aber die Frage ist, was das mit ihnen gemacht hat. Sie haben einfach alles stehen und liegen lassen, es musste alles in zwei Taschen passen und dann mussten sie fahren. Alles, was sie kannten, ihre Familie, ihre Freunde, ihre Arbeit – alles haben sie hinter sich gelassen. Und darauf antwortet meine Familie mit: „Es war einfach so.“ Ich glaube, meine Generation ist diejenige, die mehr darüber nachdenkt, darüber redet und hinterfragt.

Was unterscheidet unsere Generation noch von der unserer Eltern?
Wir sind die Generation, die aufhört, nur dankbar zu sein. Wir sind die Generation, die lauter ist, die auf Probleme hinweist. Wir sind nicht die Generation, die sich bedankt, wenn jemand sagt „Oh, sie sprechen aber sehr gut deutsch“, oder „Sie sind aber gut integriert“, sondern die sagt, dass wir auch hierhergehören. Wir sehen die Probleme der Gesellschaft und des Systems und zeigen sie auf. Und ich glaube, bei unseren Eltern oder vielleicht noch bei den Großeltern ist es so, dass man sich da viel kleiner macht und viel dankbarer erweist.

Unsere Eltern-Generation ordnet sich auch oft nicht direkt als Migrationsgruppe ein, wir vielleicht eher. Wo siehst du Russlanddeutsche? Sind sie Teil der Dominanzgesellschaft in Deutschland, weil viele von ihnen weiß sind?
Irgendwo gehören Russlanddeutsche ja schon zur Dominanzgesellschaft. Wir haben das Privileg, weiß zu sein und nicht aufzufallen, wir sind white-passing. Aber natürlich haben wir diese Migrationsgeschichte. Wir tragen sie in uns, wir kennen diese Zerrissenheit und wir kennen auch andere Rassismen. Unsere Generation spricht perfekt deutsch ohne Akzent – wir gehören zur Dominanzgesellschaft. Aber andererseits beobachte ich, dass wir es sind, die sagen: „Ich habe einen Migrationshintergrund, das möchte ich klipp und klar betonen.“ Damit nimmt man sich aktiv wieder raus der Dominanzgesellschaft. Wir sind hybride Wesen, wenn man so will.

Siehst du Allianzen zwischen Russlanddeutschen und anderen Migrationsgruppen in Deutschland? Gibt es die überhaupt?
Ich weiß nicht, ob es sie im Großen gibt. Im Kleinen beobachte ich sie, sie sind Teil meines Alltags. Meine beste Freundin, die in Deutschland geboren ist, hat einen kurdischen Hintergrund. Ich merke, dass wir sehr viel gemeinsam haben, obwohl wir eigentlich aus unterschiedlichen Kulturen kommen. Wir haben eine Allianz geschlossen und diesen Podcast gemacht, um noch mehr Leute abzuholen und zu erreichen. Aber auch, um ihnen eine Plattform zu geben, vor allem im Öffentlich-Rechtlichen. Wir sind damit aufgewachsen, dass wir Menschen, die denselben oder einen ähnlichen kulturellen Background haben wie wir, sehr selten in der Öffentlichkeit gesehen haben.

An wen ist der Podcast adressiert?
Wir haben viele unterschiedliche Menschen da, wir haben jemanden mit einem Armenisch-Türkischen Hintergrund; wir haben jemanden, der aus Marokko adoptiert wurde; wir haben jemanden aus der Ukraine, aus Polen. Der Podcast wird überwiegend von Menschen mit Migrationsgeschichte gehört, aber ich würde mir wünschen, dass ihn auch Menschen ohne Migrationsgeschichte hören, damit sie diese Dinge verstehen. Wir wollen auch, wie man so schön sagt, Brücken bauen und Missverständnisse aufklären.

Früher war es immer so, dass wir die „guten Migranten“ waren, weil wir unter dem Radar liefen und unauffällig waren – jetzt sind wir auffällig und das ist gut.

Was gibt dein Podcast Personen mit Migrationshintergrund?
Empowerment für Migras. Aber ich erhoffe mir auch, dass es sich Menschen ohne Migrationsgeschichte anhören und dann erstmal ihren Wissensstand vielleicht nochmal erweitern und an ihren Stereotypen rütteln.

Was wünscht du dir konkret für die Position von Russlanddeutschen in Deutschland; was soll sich verändern?
Ich finde, wir sind gerade auf einem ganz guten Weg. Wir vernetzen uns, wir werden sichtbarer. Diesen Austausch finde ich sehr spannend und schön. Früher war es immer so, dass wir die „guten Migranten“ waren, weil wir unter dem Radar liefen und unauffällig waren – jetzt sind wir auffällig und das ist gut.

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Interview: Xenia Miller

Foto: Marianna Deinyan