Interview

Russlanddeutsche und der „Tag des Sieges“ am 9. Mai

Der Tag, an dem der Zweite Weltkrieg endete, ist in Russland und anderen Ländern ein Feiertag. In Deutschland wird am 8. Mai der „Befreiung“ vom Nationalsozialismus gedacht. Für Russlanddeutsche ein kompliziertes Datum: Das offizielle Gedenken in der ehemaligen Sowjetunion und die eigene Familiengeschichte mit Deportationserfahrungen passen häufig nicht zusammen. Gleichzeitig stehen in Hinblick auf diesen Tag aber auch das Gedenken in Deutschland und Sozialisation in der Sowjetunion im Widerspruch. Wir haben den Historiker Mischa Gabowitsch gebeten, dieses vielschichtige Datum zu beleuchten und gefragt: Mitfeiern, ja oder nein?
Der Historiker und Soziologe Mischa Gabowitsch (Foto: Sebastian Bodirsky/gabowitsch.net)

Mischa Gabowitsch ist Historiker, Soziologe und seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Einstein Forum in Potsdam. Er forscht zur Protestkultur sowie zum Gedenken an Krieg und Massenmord in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion.

Am 8. Mai 1945 wurden die Nazis besiegt, der Zweite Weltkrieg in Europa war zu Ende. Warum ist der Tag in Deutschland kein Feiertag?
Andersrum gefragt: Warum sollte er einer sein? Der 8. Mai ist formal gesehen der Tag einer Niederlage. Dass diese Niederlage auch eine Befreiung war, stand zwar in Ostdeutschland immer fest, aber in Westdeutschland brauchten sehr viele bis 1985, bis zur berühmten Rede von Richard von Weizsäcker, um sich dessen bewusst zu werden. Außerdem gibt es ja schon so viele Feiertage. Jeder neue steht in Konkurrenz zu den anderen. Ich denke, so weit geht die vielgepriesene deutsche Erinnerungskultur dann doch nicht, dass man den Tag der eigenen Niederlage, zumindest aus bundesdeutscher Sicht, zu einem Feiertag erklärt.

Wie ist es in anderen Ländern?
In vielen Ländern ist der 8. oder 9. Mai ein Feiertag, aber in keinem durchgängig seit 1945 arbeitsfrei. Es gibt wenige Gedenktage dieser Art, die einmal als Feiertag festgelegt werden und diesen Status dann für immer behalten. Gedenktage sind immer ein Politikum. In Frankreich wurde der 8. Mai erst im Jahr 1953 zum arbeitsfreien Feiertag, 1959 wurde ihm dieser Status wieder aberkannt. Präsident Valéry Giscard d’Estaing schaffte ihn in 1975 ganz ab, weil er sich Westdeutschland annähern wollte. Mitterrand führte ihn 1981 wieder ein. Man muss immer fragen: Wer hat ein Interesse daran, so einen Tag zu feiern? Letztes Jahr war der 8. Mai in Berlin arbeitsfrei – weil dort eine linke Regierung an der Macht ist, für deren Geschichtsbewusstsein das ein wichtiger Tag ist. Solche Vorschläge werden, gerade in den ostdeutschen Bundesländern, immer wieder gemacht. Aber ich denke, diesen Tag auf gesamtdeutscher Ebene als Feiertag einzuführen wäre schwierig wegen der doch starken westdeutschen Tradition, in diesem Tag nicht nur eine Befreiung zu sehen, sondern auch eine Niederlage.

In Russland feiert man den 9. Mai. Sind der 8. und der 9. Mai dasselbe?
Der formale Grund ist: Als die Kapitulation unterschrieben wurde, war es in der Sowjetunion wegen der Zeitverschiebung schon einen Tag später. Es spielt aber auch eine politische Entscheidung Stalins hinein. Zuvor gab es die Kapitulationserklärung im französischen Reims, in der Nacht zum 7. Mai. Stalin aber war es wichtig, dass die Kapitulation im Beisein eines hohen sowjetischen Militärführers unterzeichnet wird. Daher die zweite Unterzeichnung in Berlin am Abend des 8. Mai, sie trat am 9. Mai in Kraft.

Man hat sich [in Westdeutschland] gehütet, diesen Tag als Tag der Befreiung zu unterstreichen, denn das hätte ja bedeutet, dass man befreit wurde von einem Land, das im Rahmen des Kalten Kriegs als Feind angesehen wurde.

Sie sagten, dass sich in Westdeutschland immer noch viele schwer tun mit diesem Tag. Wie viel hat das damit zu tun, dass es die Rote Armee war, die in Berlin gesiegt hat? Die Sowjetunion war ja auch im Kalten Krieg der Feind schlechthin.
Viel, denke ich. In der DDR war ja die offizielle Linie: Unser Verbündeter hat gesiegt, also ist der Tag auch für uns ein Tag des Sieges. In Westdeutschland konnte man natürlich nicht so argumentieren. Im Gegenteil, die Rote Armee und die Sowjetunion galten als Barbaren. Man hat sich gehütet, diesen Tag als Tag der Befreiung zu unterstreichen, denn das hätte ja bedeutet, dass man befreit wurde von einem Land, das im Rahmen des Kalten Kriegs als Feind angesehen wurde. Wenn man sich die Reden der Bundeskanzler und Bundespräsidenten zu diesem Datum ansieht: Bis 1975 wurde der Sieg der Sowjetunion unter den Tisch gekehrt.

Was ist in den 70ern passiert?
Eine generelle Liberalisierung der politischen Kultur und ganz banal die Tatsache, dass zum ersten Mal die CDU nicht mehr an der Regierung war. Die Entspannungspolitik im Rahmen der Ostpolitik war sehr wichtig und auch der Generationenwechsel. Mitte der 70er waren bereits sehr viele Leute in gesellschaftlich relevanten Positionen, die den Krieg nicht als Soldaten erlebt hatten. 1975 sprach Bundespräsident Walter Scheel als erstes Staatsoberhaupt in einer Jubiläumsrede offen über den Holocaust. Er erwähnte die jüdischen Mitbürger als Opfer. Das war ein Novum. Aber man blieb vorsichtig, was die Rote Armee anging, die Sowjetunion als Befreier. Im Kalten Krieg wäre das wohl kaum anders gegangen.

Wie wurde der Tag in der DDR gefeiert?
In der DDR gab es wahrscheinlich mehr sowjetische Militärfriedhöfe und Kriegsdenkmäler als in jedem anderen Staat des Ostblocks. In jeder Stadt gab es noch vor der Gründung der DDR, also noch in der sowjetisch besetzen Zone, eine große Dichte an Gedenkorten, die auch ganz bewusst in den Stadtzentren angelegt wurden. Bis heute ist es so: Wenn Sie in einer mittelgroßen Stadt in Ostdeutschland aus dem Zug steigen, ist es gut möglich, dass das sowjetische Ehrenmal eines der ersten Bauwerke ist, das Sie sehen. Die wurden benutzt für Zeremonien und Rituale der Freundschaft. Anfangs war das relativ direkt von der sowjetischen Administration gelenkt, aber bald hat die SED es mitorganisiert. Diese Rituale wurden sehr wichtig für das Selbstverständnis der DDR als antifaschistischer Staat auf deutschem Boden. Und für das Verständnis, dass die DDR-Bürger als Sozialisten und Kommunisten irgendwie an diesem Sieg teilhaben.

Heutzutage sagt man über diese Rituale oft: Das war von oben verordneter, staatlicher Antifaschismus, alles hohl und falsch.
Das ist die typisch westdeutsche Sicht. Sie bildet aber nur einen Teil der Wahrheit ab. Wir wissen, dass dieser Teil der antifaschistischen Ideologie durchaus für viele authentisch war und von vielen geteilt wurde, auch von DDR-Dissidenten. Die Dankbarkeit für die Befreiung wurde natürlich ideologisch total ausgeschlachtet. Die Rituale waren verbindlich, und deshalb hatten viele auch irgendwann genug davon, aber gleichzeitig war die Dankbarkeit auch durchaus genuin. Diese Tradition im Osten Deutschlands hat eine größere Komplexität, als viele in Westdeutschland nachvollziehen können.

Die Situation der Wolgadeutschen sollte sich alsbald verschlechtern. Auch das Land, das sie bewirtschaften durften, sollte eingeschränkt werden. Deshalb kam der Gedanke auf: Wir müssen einen neuen Ort finden. Aus Brasilien aber hatten sie dieses Versprechen: Wir geben euch Land. Das war sehr attraktiv. Viel attraktiver als mit nichts in Deutschland anzufangen.

Aus Russland kennt man vor allem die Militärparade in Moskau.
Zum einen ist dieser Tag in Russland ein Anlass für staatliche Propaganda, für die Darstellung eines bestimmten Geschichtsbilds und für die Selbstdarstellung als militärische Großmacht. Seit 1965 zum ersten Mal eine Militärparade zum 9. Mai auf dem Roten Platz stattfand, wird dabei immer die neueste Technik gezeigt, nicht zuletzt für potentielle Käufer auf der ganzen Welt. Es gibt in Russland und in anderen postsowjetischen Staaten staatliche Stellen, die sich darauf spezialisieren, Veranstaltungen für diesen Tag zu organisieren. Das ist ein gigantisches Programm. Von patriotischen Erziehungsmaßnahmen für Schulkinder bis hin zu Angeboten für die sehr wenigen Veteranen, die noch am Leben sind. Aber gleichzeitig ist der 9. Mai eben auch ein Tag, dessen Bedeutung aus der Gesellschaft heraus erwächst. Es gibt sehr viele Initiativen, die diesem Tag ihre eigene Bedeutung geben.

Zum Beispiel?
Ein wichtiges Stichwort ist das Unsterbliche Regiment, die mit Abstand größte soziale Bewegung in der russischsprachigen Welt, bei der es darum geht, dass Menschen am 9. Mai mit Porträts ihrer Verwandten auf die Straße gehen, die irgendwie am Krieg beteiligt waren. Das sind jedes Jahr Hunderttausende. Die Bewegung wurde von einer Gruppe liberaler, regierungskritischer Journalisten in Tomsk ins Leben gerufen, die das Gedenken individualisieren wollten. Ganz viele Menschen beteiligen sich daran, nicht nur an den öffentlichen Märschen, es gibt auch eine Website, auf der man biografische Details über die eigenen Verwandten veröffentlichen kann. Das hat die Gedenkkultur transformiert. Dann aber wurde die Initiative teilweise von staatlichen Stellen gekapert. Das ist das Schicksal vieler solcher Initiativen. Sie werden übernommen, weil der Staat sie harmlos machen und in die eigenen Pläne einbinden will. Es wäre falsch zu sagen, der 9. Mai in Russland ist eine reine Propagandaveranstaltung, aber es ist auch nicht bloß ein genuines Gedenken von unten. Staatliche und gesellschaftliche Initiativen beeinflussen einander immer wieder, und das Resultat ist eine ständige Erneuerung der Praktiken, die mit diesem Tag verbunden sind.

Offiziell wurde beim Gedenken nicht nach ethnischer Herkunft unterschieden. Der Ideologie nach, musste es etwa in Kasachstan egal sein, ob man deutscher Herkunft war, kasachischer oder russischer. Auch russlanddeutsche Kinder wurden mit Blumen zu den Veteranen geschickt. Ich weiß aber, dass vielen Deutschstämmigen inoffiziell gesagt wurde: Das ist nicht dein Sieg.

Gab es innerhalb dieser Erneuerungen jemals Raum, der russlanddeutschen Schicksale zu gedenken? Ich kenne das aus russlanddeutscher Sicht ungefähr so: Man nahm teil am feierlichen Zug durch die Stadt, das war ja auch Pflicht. Ansonsten hielt man sich eher bedeckt, weil man eben keinen Großvater hatte, der Faschisten im Krieg getötet hatte. Die Russlanddeutschen wurden ja selbst als Faschisten bezeichnet, obwohl sie nichts mit Hitlers Krieg zu tun hatten.
Ein paar Fälle gab es schon von Russlanddeutschen, die in der Roten Armee waren, aber die meisten haben eine Deportationsgeschichte. In der Sowjetunion war es zumeist so, wie Sie es beschrieben haben. Denn die Gedenkkultur war seit den 1960er Jahren um Veteranen herum organisiert. Gerade in den 60ern, 70ern und 80ern, zur Hochzeit des 9. Mai als staatstragendem Fest in der Sowjetunion, standen die Veteranen im Zentrum der Veranstaltung. Und klar, wenn es nur wenige russlanddeutsche Veteranen gibt, dann kann man das nicht in dieser Form feiern.

Haben sich die Russlanddeutschen an diesem Tag wie Verlierer gefühlt, einfach weil sie Deutsche waren? Oder wie Fremdkörper, weder hier noch dort zugehörig?
Darüber sind mir keine Studien bekannt. Das sind Dinge, über die man zu sowjetischen Zeiten nicht offen sprechen konnte. Offiziell wurde beim Gedenken nicht nach ethnischer Herkunft unterschieden. Der Ideologie nach, musste es etwa in Kasachstan egal sein, ob man deutscher Herkunft war, kasachischer oder russischer. Auch russlanddeutsche Kinder wurden mit Blumen zu den Veteranen geschickt. Ich weiß aber, dass vielen Deutschstämmigen inoffiziell gesagt wurde: Das ist nicht dein Sieg.

Was sich in der postsowjetischen Zeit verändert hat, ist eine Ausweitung derjenigen, derer man legitimerweise gedenken darf. Auch Angehörige von Volksgruppen, die Repressionen ausgesetzt waren, die deportiert wurden, werden geehrt. Es geht also inzwischen weniger um eine abstrakte kollektive Identität, sondern vor allem um die Familiengeschichte.

Wie ist es heute für Russlanddeutsche in Russland?
Was sich in der postsowjetischen Zeit verändert hat, ist eine Ausweitung derjenigen, derer man legitimerweise gedenken darf. Zu sowjetischen Zeiten waren es vor allem die, die tatsächlich an der Front gekämpft hatten – und dabei nicht in Kriegsgefangenschaft geraten waren. In den letzten 25 Jahren kommen immer mehr Kategorien dazu. Das Unsterbliche Regiment ist ein gutes Beispiel, denn dort kann man im Prinzip jeden eintragen, der irgendwas mit dem Krieg zu tun hatte. Auch Leute, die in Sibirien oder am Ural in Fabriken gearbeitet haben, um die Kriegswirtschaft am Laufen zu halten, werden geehrt. Auf diese Weise können sogar Angehörige von Volksgruppen, die Repressionen ausgesetzt waren, die deportiert wurden, sogar Russlanddeutsche und Tschetschenen, in den großen gemeinsamen Sieg des Volkes eingefügt werden. Weil man immer etwas finden kann, das die Biografien mit dem Krieg verbindet. Es geht also inzwischen weniger um eine abstrakte kollektive Identität, sondern vor allem um die Familiengeschichte.

Geschichte der Russlanddeutschen

Was bedeutet der 8. oder 9. Mai für die Russlanddeutschen in Deutschland?
Für einige wurde der 9. Mai zu einer Art Identitätsmarker. Vor allem für diejenigen, die sich als russischsprachige Menschen deutscher Herkunft nicht hundertprozentig akzeptiert fühlen in Deutschland. An ein Beispiel aus meiner Forschung denke ich immer wieder zurück: 2013 war ich wie jedes Jahr am 9. Mai im Treptower Park [Anm.:  Sowjetische Ehrenmal im Treptower Park Berlin] und habe Interviews mit Teilnehmern geführt. Da habe ich mit einer Gruppe junger russlanddeutscher Studierender gesprochen, die extra dorthin gekommen war, um Georgsbändchen zu verteilen, also diese schwarz-orangen Bändchen, die aus Russland kommend zu einer Art Symbol des Kriegsgedenkens und des Patriotismus geworden sind. Ohne dass ich sie selbst auf ihre Herkunft angesprochen hätte, sagten sie mir: Für uns ist das Gedenken wichtig, weil wir Patrioten der Sowjetunion sind, und das, obwohl wir deutsche Staatsbürger sind und in Deutschland leben. Sie haben aber auch von sich aus erzählt, dass es kompliziert ist. Zum einen sind sie Nachfahren von Deutschen, denen zu sowjetischen Zeiten vorgeworfen wurde, Hitlers fünfte Kolonne zu sein, und zum anderen sind sie stolze russischsprachige Patrioten. Ich würde das als einen Versuch interpretieren, das Stigma aus der sowjetischen Familiengeschichte zu kompensieren, indem man nochmal extra zeigt, wie patriotisch man ist. Außerdem geht es vermutlich auch darum, in Deutschland, wo man vielleicht nicht immer als Teil der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert wird, etwas zu finden, was der eigenen Identität Anerkennung verleiht.

Und was machen die weniger patriotischen Russlanddeutschen?
Es gibt natürlich verschiedene Typen, ich habe die ganze Bandbreite kennengelernt: von Russlanddeutschen, die diesen Tag ignorieren oder kaum noch mitbekommen bis hin zu Leuten, die das im Prinzip genauso feiern wie alle anderen Russischsprachigen auch und darin auch kein Problem sehen. Dazwischen sind diejenigen, denen die Komplexität bewusst ist, für die dieser Tag aber weiterhin wichtig bleibt.

Interview: Viktoria Morasch

Foto: Sebastian Bodirsky

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