Interview

„Los Alemanes del Volga“ – Die Geschichte der Wolgadeutschen in Argentinien

Federico und Wenzel Vöcks de Schwindt sind Theatermacher und leben in Berlin. 2014 lernten sie sich kennen, als der Argentinier Federico zu Besuch in Deutschland war. Sie verliebten sich und starteten ein gemeinsames Theaterprojekt, um die Familiengeschichte von Federico zu erforschen: „On the first night we looked at maps – Los Alemanes del Volga“ erzählt die Geschichte der Wolgadeutschen, die Russland Ende des 19. Jahrhunderts verließen, um in Südamerika neu zu beginnen. Das Stück ist dokumentarisch. Federico und Wenzel sitzen mit etwa 10 Zuschauer:innen an einem Tisch, breiten Landkarten aus, lesen aus historischen Quellen vor, erzählen Gegenwart und Vergangenheit. Dabei fällt auch diese Zahl: Zweieinhalb Millionen Menschen in Argentinien haben – wie Federico – einen wolgadeutschen Hintergrund.
Die Schauspieler Federico (links) und Wenzel Vöcks de Schwindt (Foto: Jana Kiesser)

Federico, euer Theaterstück beginnt damit, dass du von deinem Großvater erzählst. Du beschreibst ihn als eher stillen Typ. Aber als du ihn nach seiner Geschichte und der der Wolgadeutschen gefragt hast, blühte er auf, war wie verwandelt. Was war das für ein Moment? Warum hast du ihn gerade da nach seiner Vergangenheit gefragt?

F: Das hatte viel damit zu tun, dass ich einen Monat zuvor Wenzel kennengelernt habe. Damals wusste ich zwar, dass ein Teil meiner Familie wolgadeutsch ist, daher kommt ja auch mein Nachname Schwindt, aber die Begegnung mit Wenzel hat dazu geführt, dass ich mich wirklich damit beschäftigt habe. Vielleicht wusste ich schon, dass diese Beziehung wichtig werden würde. Vielleicht habe ich nach einer Identität gesucht, die mich mit Wenzel verbinden könnte.

Hast du eine gefunden? Gibt es etwas, das dich als Nachfahren von Wolgadeutschen aus Südamerika mit jemandem aus dem heutigen Deutschland verbindet?

F: Das Theaterstück hat uns auf jeden Fall viel näher zusammengebracht. Aber damit hat die Geschichte der Wolgadeutschen weniger zu tun als die Arbeit am Projekt selbst.

W: Mir hat diese Arbeit geholfen, meine Position in Federicos Familie zu finden. Ich wurde mit offenen Armen begrüßt, auch weil ich mich so für die Geschichte der Familie interessiert habe. Wir haben Interviews mit Federicos Großeltern, dem Vater und anderen Verwandten geführt und gemeinsam geforscht, das war schon ein besonderes Kennenlernen.

War die Geschichte der Wolgadeutschen neu für dich, Wenzel? Oder kanntest du sie von Russlanddeutschen in Deutschland?

W: Ich bin in Magdeburg geboren und aufgewachsen, 1993 zur Schule gekommen. Ich erinnere mich, dass es in der Grundschule auch Russlanddeutsche gab. Die sogenannten Spätaussiedler. Später in meiner Zivildienstzeit bei der Bahnhofsmission gab es auch noch die Kategorie Spätaussiedler, für die Statistik. Aber privat hatte ich keinen Kontakt zu Russlanddeutschen. Und dieser Aspekt, dass es auch Russlanddeutsche aus Südamerika gibt – das war neu für mich und hat mich fasziniert. Ich fand das exotisch: Wolgadeutsche Kolonien in Argentinien, wo die Leute diesen alten deutschen Dialekt sprechen.

Wie kamen die Wolgadeutschen denn nach Südamerika?

F: 1763 lud Zarin Katharina die Große Deutsche ein, nach Russland zu kommen. Hundert Jahre später hatten sich die, die überlebt hatten, an der Wolga schon vieles erarbeitet. Und sie waren ziemlich autonom geblieben, was ihnen wichtig war. Zar Alexander der Zweite aber wollte den Wolgadeutschen viele Rechte nehmen, die Katharina die Große ihnen versprochen hatte: Sie mussten bis dahin zum Beispiel nicht zum Militärdienst, durften ihre Religion frei ausüben und weniger Steuern zahlen. Ihre Situation sollte sich alsbald verschlechtern. Auch das Land, das sie bewirtschaften durften, sollte eingeschränkt werden. Deshalb kam der Gedanke auf: Wir müssen einen neuen Ort finden.

Eine der ersten Gruppen, die sich 1877 auf den Weg machte, reiste über Bremerhaven per Schiff. Sie wollte eigentlich nach Brasilien und landete in Buenos Aires – das erzählt ihr im Stück. Wieso ist diese Gruppe nicht gleich in Deutschland geblieben?

F: Ich glaube, dass sie nicht bleiben durften. Sie wurden auch nicht einfach so als Deutsche anerkannt. Und wenn man daran denkt, wie viel Land sie an der Wolga hatten – so viel fand man hierzulande nicht so leicht. Aus Brasilien aber hatten sie dieses Versprechen: Wir geben euch Land. Das war sehr attraktiv. Viel attraktiver als mit nichts in Deutschland anzufangen.

W: Diese Gruppe Auswanderer bestand aus etwa 1000 Menschen. Die hätten auch erst mal untergebracht werden müssen.

F: Ein Faktor, der auch wichtig war, war eher psychologisch: Sie dachten, dass sie sich in Deutschland zuhause fühlen würden, aber das war nicht so. Sie wurden nicht als ebenbürtig behandelt. Ihr Dialekt war damals schon veraltet, genau wie ihre Traditionen. Sie hatten sich in hundert Jahren an der Wolga natürlich den dortigen Lebensbedingungen angepasst.

Die Situation der Wolgadeutschen sollte sich alsbald verschlechtern. Auch das Land, das sie bewirtschaften durften, sollte eingeschränkt werden. Deshalb kam der Gedanke auf: Wir müssen einen neuen Ort finden. Aus Brasilien aber hatten sie dieses Versprechen: Wir geben euch Land. Das war sehr attraktiv. Viel attraktiver als mit nichts in Deutschland anzufangen.

Das war 120 Jahre später wieder so, als die meisten Russlanddeutschen nach Deutschland einwanderten. Viele dachten, sie kämen in die alte Heimat, aber natürlich waren sie anders deutsch als die Menschen hier.

F: Vielleicht sind diejenigen, die damals nach Argentinien auswanderten, auch zu der Schlussfolgerung gelangt, dass sie Deutschland schnell wieder verlassen müssen, um die Idee von Heimat zu bewahren. Für Wolgadeutsche ist die Heimat immer woanders. In Argentinien singen sie von der Wolga als Heimat. Und die, die an der Wolga lebten, sangen von Deutschland.

Dein Großvater, Federico, wuchs in einem wolgadeutschen Dorf in Argentinien auf. Wie kann man sich das Leben dort vorstellen?

F: Im Grunde haben die Wolgadeutschen in Argentinien dasselbe gemacht wie in Russland. Sie haben sich abgeschirmt und relativ autark gelebt. Sie haben den hessischen Dialekt aus dem 18. Jahrhundert weiter als Muttersprache gepflegt, ihre eigenen Kirchen gebaut. Spanisch brauchten sie nicht, aber sie mussten es in der Schule lernen.

Gibt es solche Dörfer heute noch in Argentinien?

F: Die Dörfer existieren noch, aber die sozialen Strukturen haben sich seit den 1950er Jahren sehr verändert. Die Sprache und Identität werden fast nur noch von den Alten bewahrt. Es gibt aber auch Vereine in Buenos Aires und anderen Städten, die zum wolgadeutschen Dialekt und Traditionen forschen und sie bewahren wollen. Mein Großvater ist als junger Mann nach Buenos Aires gegangen und hat dort meine Großmutter, eine Italienerin, kennengelernt. Er hat seine Kinder zwar noch auf eine deutsche Schule geschickt, aber selbst nicht mehr deutsch mit ihnen gesprochen.

Wie unterscheidet sich dein Großvater von anderen Argentiniern?

F: Viele Leute aus Buenos Aires haben europäische Vorfahren. Anfang des 20. Jahrhunderts bestand die Hälfte der Bevölkerung von Buenos Aires aus europäischen Einwanderern. Deswegen ist es schwer zu sagen, was ein Argentinier ist. Aber was auf jeden Fall anders ist bei meinem Großvater, ist, wie er Spanisch spricht. Sehr gut und korrekt, aber immer irgendwie formell, fast künstlich. Darüber habe ich nie nachgedacht. Erst als mir klar wurde, dass Spanisch seine zweite, oder nach Hochdeutsch sogar seine dritte Sprache ist, habe ich verstanden, dass er vielleicht keine tiefere Verbindung zu der Sprache hat. Als wir ihn interviewt haben und Wenzel mit ihm auf Deutsch sprach, haben wir gemerkt, dass er viel emotionaler war, wenn er seine Muttersprache verwendete. Das war eine Seite an ihm, die ich vorher nicht kannte.

Inzwischen sprichst du, Federico, selber sehr gut Deutsch. Hast du dich mal auf Deutsch mit deinem Großvater unterhalten?

F: Noch nicht. Ich traue mich nicht und habe ein bisschen Angst davor, wie emotional das werden kann. Aber wenn ich das nächste Mal in Argentinien bin, versuche ich es.

Vielleicht sind diejenigen, die damals nach Argentinien auswanderten, auch zu der Schlussfolgerung gelangt, dass sie Deutschland schnell wieder verlassen müssen, um die Idee von Heimat zu bewahren. Für Wolgadeutsche ist die Heimat immer woanders. In Argentinien singen sie von der Wolga als Heimat. Und die, die an der Wolga lebten, sangen von Deutschland.

Für die meisten Russlanddeutschen ist die Erfahrung der Deportation 1941 prägend und identitätsstiftend. Deine Vorfahren haben Russland schon vorher verlassen. Ist die Deportation der Russlanddeutschen nach Sibirien und Zentralasien überhaupt ein Thema für die Nachfahren der Wolgadeutschen in Südamerika? Sagt man: Zum Glück sind wir vorher  weg?

F: Es kann schon sein, dass sich einige mit dem Schicksal der Russlanddeutschen, die deportiert wurden, solidarisiert haben. Aber aus meiner Erfahrung ist die Deportation kein großes Thema. Die Geschichten haben sich ab dem Punkt der Ausreise getrennt.

W: In den Gesprächen mit Federicos Großvater war das auch nie Thema. Auch im Buch, das wir als Quelle für unser Stück benutzen, kommt es nicht vor.

F: Das hat bestimmt auch damit zu tun, dass die Kommunikation damals anders war. Aus Russland nach Argentinien auszuwandern bedeutete einen kompletten Cut. Es lagen ja auch 80 Jahre zwischen diesen beiden Ereignissen.

Ich finde das faszinierend: Wolgadeutsche ohne Deportationsgeschichte, wow! Aber wahrscheinlich hatten sie es auch nicht leicht, als sie in Argentinien ankamen, oder? 

F: Auf jeden Fall war es einfacher als das Ankommen in Russland. Die klimatischen Bedingungen waren besser. Das einzige Problem war, dass die Regierung nicht wusste, dass so viele Leute kommen würden. Sie sollten ja nach Brasilien. Aber auch in Argentinien hat man nach Europäern  gesucht, die das Land bewirtschaften konnten. Deshalb waren sie ziemlich willkommen. Reich sind die meisten Wolgadeutschen zwar nicht geworden, sie waren weiterhin Bauern, aber es ging ihnen relativ gut.

Ihr sagt im Theaterstück, dass ungefähr 2,5 Millionen Menschen in Argentinien einen wolgadeutschen Hintergrund haben. Kennt man die Geschichte der Wolgadeutschen dort also gut?

F: Vor allem kennen sie diejenigen, die selbst wolgadeutsche Wurzeln haben. Es gibt so viele Einwanderungsgeschichten in Argentinien. Jeder kennt mehr oder weniger seine eigene.

Ein bisschen ist es in Deutschland ja auch so.

W: Was ich interessant finde, ist, dass der Name Schwindt oft sofort als wolgadeutsch erkannt wird.

F: Das ist mir in der argentinischen Botschaft in Berlin passiert. Da arbeitet eine argentinische Russlanddeutsche und die hat den Namen erkannt. Sie sagte, sie kenne auch Schwindts und viele von ihnen stammen aus demselben Dorf wie meine Vorfahren.

Manche freuen sich, dass sie mit unserem Stück was Neues gelernt haben, andere erkennen: Ah! Es gab immer Migration! Auch die Deutschen sind mal ausgewandert. Das, finde ich, ist eine der schönsten Reaktionen.

In eurem Stück konzentriert ihr euch auf die Geschichte der Wolgadeutschen, die nach Südamerika ausgewandert sind. Dass etwa dreieinhalb Millionen Wolgadeutsche und deren Nachfahren heutzutage in Deutschland leben, spart ihr aus. Warum?

F: Weil das eine andere Geschichte ist. Aber das Thema kommt oft beim Nachgespräch.

W: Es ist Teil der Performance, dass wir am Tisch sitzen bleiben und noch mit dem Publikum reden. Da gibt es immer viel Gesprächsbedarf.

F: Manche freuen sich, dass sie was Neues gelernt haben, andere erkennen: Ah! Es gab immer Migration! Auch die Deutschen sind mal ausgewandert. Das, finde ich, ist eine der schönsten Reaktionen.

W: Dann gibt es Leute, die das Stück romantisch und süß finden, die berührt sind von unserer Liebesgeschichte, das ist auch schön. Romantische, schwule Geschichten zu erzählen, ist wichtig. Es soll nicht immer um Drama, Krankheit oder Coming-out gehen.

F: Es gibt auch Leute, die selber eine Migrationsgeschichte haben und sich in meiner Geschichte wiedererkennen oder anfangen, über ihre eigene Geschichte nachzudenken. Manche sagen: Ich muss jetzt auch mal mit meinen Großeltern reden.

W: Es kam auch vor, dass Russlanddeutsche im Publikum saßen, die in den Neunzigern nach Deutschland gekommen sind. Für sie war die Geschichte mit Südamerika auch relativ neu.

Federico, würdest du sagen, es gibt eine Verbindung zwischen dir und diesen Russlanddeutschen?

F: Nicht direkt. Ich fühle mich aber auch nicht als Wolgadeutscher. Ich finde diese Geschichte interessant, aber ich habe nicht genügend Erfahrungen mit dieser Kultur gemacht, um zu sagen: Ich bin das. Ich bin Argentinier und Argentinien ist divers. Ich fühle mich verbunden mit Leuten, die Migrationserfahrungen gemacht haben. Die verstehen, was es bedeutet, nicht komplett zuhause zu sein, oder anders zu sein. Diese Erfahrung habe ich auch als schwuler Mann gemacht. Ich finde das nicht negativ. In diesem Gefühl liegt zwar eine Sehnsucht, aber auch eine große Freiheit.

Interview: Viktoria Morasch

Foto: Jana Kießer

Homepage von Federico & Wenzel Vöcks de Schwindt: https://voecks-de-schwindt.de/

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