Interview

„Ich bin eine dreifache Regelbrecherin“

Anders als viele Literaturschaffende russlanddeutscher Herkunft beschäftigt sich die Autorin Rosa Ananitschev nicht mit Fragen nach Heimatsuche oder Identitätsfindung, sondern spricht über Themen, die in der russlanddeutschen Community sonst wenig verhandelt werden. In ihren autobiografischen Werken „Andersrum“ und „In der sibirischen Kälte“ berichtet Rosa von ihren Erlebnissen aus der Kindheit und Jugend. Sie schreibt über sexuellen Missbrauch, den sie als Kind erlebte, ihre Depressionen, ihre Selbstfindung und die Reaktionen auf ihr Coming-out. Katharina Martin-Virolainen hat sich mit Rosa über ihre Erfahrungen, Tabus in der russlanddeutschen Community und russlanddeutsche Literatur unterhalten.
Die russlanddeutsche Autorin Rosa Ananitschev bei einer Lesung

In deinen Büchern und auf deinem Blog www.rosa-andersrum.de thematisierst du kontroverse Themen, gehst offen mit deiner Homosexualität um. Wie waren bisher die Rückmeldungen zu deinen Büchern und Blogbeiträgen?

Ausgesprochen positiv, auch wenn es nur wenige Rezensionen im Internet gibt. Aber in der Stadtbücherei, wo ich bis zu meiner Rente gearbeitet habe, werden meine Bücher sogar besser als so manch ein Bestseller ausgeliehen. Als ich noch im Dienst war, kamen immer wieder Leserinnen und Leser auf mich zu, um mir ihre Anerkennung auszusprechen. 

„Deine Texte sind sehr bewegend. Du kennst die Sprache des Herzens und kannst sie in Worte fassen – eine seltene Gabe.“ Diese Rückmeldung, die auch meine Blogbeiträge betrifft und die ich sehr wertschätze, kam zum Beispiel von einer Person, von der ich es am wenigsten erwartet hätte. Das zeigt mir deutlich, dass das, was ich schreibe und wie ich es schreibe, richtig ist. 

Es gibt allerdings auch empörte Stimmen, von Menschen, die die Bücher nicht gelesen haben, aber von Vornherein überzeugt sind, dass alles darin erdacht und erlogen ist. Einer meiner Cousins – der hat „In der sibirischen Kälte“ übrigens gelesen! – ist der Meinung, ich mache die Familie schlecht und was den Missbrauch betrifft, so seien es Wahnvorstellungen, bestenfalls falsche Erinnerungen. Er als Arzt wisse da Bescheid.

Es wird behauptet, dass die Themen der russlanddeutschen Literatur nicht ansprechend genug für die deutsche Leserschaft seien. Würdest du dem zustimmen? Welchen aktuellen Themen könnte man sich in der russlanddeutschen Literatur noch widmen?

Das würde ich so nicht sagen. Auch die russlanddeutsche Literatur ist anspruchsvoll. Es sind nun mal vorwiegend Themen, die das Vergangene behandeln, aber das ist verständlich und das wird noch lange so bleiben. Soll es auch! Die Russlanddeutschen haben eine gewaltige Menge aufzuarbeiten – das, worüber sie schreiben, ist für alle Menschen wichtig. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die deutsche Leserschaft sich sehr wohl dafür interessiert, sogar mehr noch als die russlanddeutsche. Das, was in Russland war, darf sich nie mehr wiederholen. Darüber muss noch mehr und immer wieder geschrieben werden.

Aktuelle Themen? Sexueller Missbrauch wäre ein Thema. Aber auch Gewalt in der Ehe. Oder Menschen, die anders fühlen, anders denken. Transgender – auch das ist ein großes Tabu-Thema, worüber die Russlanddeutschen kaum etwas wissen. Oft hört man dazu Sprüche wie: „Wie – im falschen Körper? – So etwas gibt es nun wirklich nicht! – Die spinnen doch! – Solche Menschen gehören in die Psychiatrie!“

Transgender – auch das ist ein großes Tabu-Thema, worüber die Russlanddeutschen kaum etwas wissen. Oft hört man dazu Sprüche wie: „Wie – im falschen Körper? - So etwas gibt es nun wirklich nicht! - Die spinnen doch! - Solche Menschen gehören in die Psychiatrie!“

Woran liegt es? Warum gelten diese Themen bei Russlanddeutschen heute häufig immer noch als Tabu?

Meiner Meinung nach liegt es unter anderem daran, dass „unsere Leute“ aus einem Land kommen, in dem diese Themen verschwiegen wurden, in dem es „nichts von alledem gab“. Aber es gab sie – die vielen missbrauchten Kinder. Nur wenige von ihnen trauten sich, mit Erwachsenen darüber zu sprechen. Und wenn sie darüber redeten, dann glaubte ihnen keiner oder der Schreck war so groß, dass man sie wieder zum Schweigen brachte. Die Öffentlichkeit durfte darüber bloß nichts erfahren. So schwiegen die Betroffenen, versuchten ihr Leben zu leben – ohne jegliche Hilfe. Sie litten, verdrängten alles oder im schlimmsten Fall wurden sie selbst zu Tätern.

Der andere Aspekt: In Deutschland leben Russlanddeutsche, besonders die Älteren, häufig unter sich. Für sie unbequeme Themen ignorieren sie, sehen darüber hinweg, wollen sich nicht damit auseinandersetzen. Wenn entsprechende Sendungen im Fernsehen kommen, schalten sie um, denn das ist nichts für sie. Sie sind im festen Glauben, dass unter ihnen alles „normal“ und „anständig“ sei. 

Der dritte Grund: Viele sehen sich überwiegend russische Sendungen an und abonnieren russische Zeitschriften, in denen diese Themen kaum aufgegriffen werden. Beispielsweise wurde mir bei zwei russlanddeutschen Zeitungen schon vor den Interviews nahegelegt, bloß nicht zu erwähnen, dass ich homosexuell und mit einer Frau verheiratet bin. Man wolle die Leserinnen und Leser nicht abschrecken und sie auf diese Weise verlieren. Für solche Themen seien sie zu konservativ. Aber Verschweigen und Wegsehen bringt sie doch nicht weiter, macht sie nicht weltoffener! 

Es fehlt die richtige Aufklärung. So wird zum Beispiel von einigen Homosexualität immer noch als pervers angesehen. Schwul oder lesbisch verbinden manche in ihrem Kopfkino sofort mit sexuellen Handlungen. Einmal fragte mich ein Mann, wie das so im Bett zwischen zwei Frauen abläuft. Auf meine Gegenfrage, wie es denn zwischen ihm und seiner Frau im Bett ablaufe, gab er mir keine Antwort. Dass zwei Menschen gleichen Geschlechts die gleichen Bedürfnisse, Sehnsüchte und Wünsche haben, wie die Heterosexuellen auch, dass sie einander lieben, füreinander da sein wollen, zusammen alt werden möchten – soweit denken viele gar nicht, soweit wollen sie nicht denken. Ihrer Meinung nach geht es in homosexuellen Beziehungen nur um Sex, und das sei pervers – Schluss, aus und vorbei.

Es fehlt die richtige Aufklärung. So wird zum Beispiel von einigen Homosexualität immer noch als pervers angesehen. Dass zwei Menschen gleichen Geschlechts die gleichen Bedürfnisse, Sehnsüchte und Wünsche haben, wie die Heterosexuellen auch, dass sie einander lieben, füreinander da sein wollen, zusammen alt werden möchten – soweit denken viele gar nicht, soweit wollen sie nicht denken.

In deinen Kurzgeschichten gibst du sehr viel von dir preis, teilst deine Erinnerungen und Emotionen mit der Leserschaft. Wer oder was gab dir Kraft und Mut darüber zu schreiben?

Einfach war es nicht, insbesondere, was das Thema Kindesmissbrauch angeht. Offen darüber zu schreiben, wenn es um dich selbst geht, fällt nicht leicht. Ich habe diesen Weg gewählt, weil er für mich der einzig mögliche war, um das Geschehene zu verarbeiten. Ich konnte nicht schweigen, sonst wäre ich daran erstickt. Es ist auch für andere Missbrauchsopfer hilfreich, darüber zu lesen, zu erfahren, wie jemand damit umgeht, was ihm hilft, wie er sich befreien kann. Ich habe im Netz viele Frauen kennengelernt, denen Ähnliches passiert ist. Ich bin nicht die einzige, die das Schweigen bricht und ich hoffe, es werden immer mehr.

Das gleiche betrifft meine Homosexualität, die erst in Deutschland zum Vorschein kam. Bis dahin schlummerte sie in mir und wartete bloß den richtigen Moment ab. Nein, das bedeutet nicht, dass ich einst meinen Mann heiratete, nur weil es der Norm entsprach. Auch ihn habe ich geliebt. Die Liebe nimmt aber manchmal unerwartete Wendungen. Das „plötzlich“ festzustellen kam für mich einem Schock gleich. Es dauerte, bis sich mein Selbstbewusstsein stärkte. Letztendlich konnte ich nicht anders, als mir selbst und meinen Lieben gegenüber ehrlich zu sein.

Insofern bin ich eine dreifache Regelbrecherin. Nicht nur, dass ich das Unsägliche in die Welt hinausgetragen und die Familie „beschmutzt“ habe. Nein, ich habe mich auch noch dem eigenen Geschlecht zugewandt. Und – nicht zu vergessen – obendrauf bin ich auch noch eine Ehebrecherin. Dazu muss ich sagen: Nicht alle aus meiner Verwandtschaft haben mich für schuldig gesprochen, mich verflucht und aus der Verwandtschafts-Liste gestrichen, zu einigen habe ich nach wie vor guten Kontakt. Andere habe ich mit meiner Offenheit als Freunde dazu gewonnen.

Biografisches zu Rosa Ananitschev
Geboren 1954 als Rosa Schütz in Schönfeld, einem kleinen Dorf im Gebiet Omsk in Russland, in einer deutschen Familie. Nach der Schule folgte eine Ausbildung zur Bibliothekarin. Im Jahr 1992 kam Rosa Ananitschev mit ihrer Familie nach Deutschland.

Heute lebt Rosa mit ihrer Frau in Hemer, hat zwei erwachsene Söhne und Enkelkinder. Sie schreibt Kurzgeschichten und führt einen Blog: https://rosasblog54.wordpress.com/

Rosas Homepage: https://www.rosa-andersrum.de/


Interview: Katharina Martin-Virolainen

Foto: Birgit Merfeld

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