Interview

Russisch, Deutsch, Queer – geht das zusammen?

Russlanddeutsch zu sein bringt seine Identitätskonflikte mit sich. Die Frage, ob man sich eher russisch oder deutsch fühlt, begleitet viele Russlanddeutsche ein Leben lang – auch die junge, hier aufgewachsene Generation. Für sie wird es immer selbstverständlicher, neben ihrer russlanddeutschen Identität auch ihre sexuelle Identität (1) frei auszuleben. Inwiefern lassen sich die beiden vereinen? Zwei LGBTQ+ Personen (2) erzählen von den verschiedenen Welten, in denen sie leben, und auch, wie diese sich manchmal gegenseitig ergänzen oder ausschließen können.
Queer und Russlanddeutsch

Protokoll von Alex*, 21 Jahre alt

„Obwohl ich in Deutschland geboren bin, erlebe ich zu Hause und in meinem Freundeskreis intensiv die russische Kultur – und liebe sie. Meine Eltern sind in den 90er Jahren aus der damaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen. Dort haben sie als deutsche Minderheit gelebt, teilweise haben sie sogar noch deutsch gesprochen. Wenn mich hier in Deutschland jemand fragt, woher ich komme, sage ich meistens nicht, dass ich Russlanddeutscher, sondern dass ich Russe bin und dass meine Eltern ursprünglich aus Russland kommen. Die meisten wissen nicht, was Russlanddeutsche sind. Das jedes Mal zu erklären ist lästig. Trotzdem identifiziere ich mich selbst als Russlanddeutscher. Leider kann ich mich manchmal nicht mit anderen Russlanddeutschen identifizieren, weil da immer die Angst ist, dass sie eine homophobe Einstellung haben.

Es ist schwierig, an Russland und seine Kultur zu denken, ohne auch an die Queerfeindlichkeit vieler Russlanddeutscher zu denken. LGBTQ+ ist meist ein Tabu-Thema, man spricht nicht darüber. Ich bin der Meinung, das Verschweigen dessen ist auch ein Akt der Homophobie (3). Dadurch lebt man sein Queer-sein (4) meist nur in deutschen Kreisen aus und es ist schwer, beides miteinander zu vereinen.

LGBTQ+ ist meist ein Tabu-Thema, man spricht nicht darüber. Ich bin der Meinung, das Verschweigen dessen ist auch ein Akt der Homophobie.

Ich würde nicht sagen, dass es viel mit der russischen Kultur speziell zu tun hat. Ich weiß nicht genau, woran es liegt, vielleicht, weil viele in Russland eine konservative politische Einstellung haben. Die Geschlechterrolle des Mannes ist in Russland – denke ich – noch viel fester verankert und da passt Schwulsein nicht rein. Ich war noch nie in Russland und würde sehr gerne mal dorthin. Allerdings habe ich auch Angst vor Anfeindungen und Gewalt. Ich weiß allerdings nicht genau, wie es dort tatsächlich ist; in den deutschsprachigen Medien hört man nur von Schlechtem. Politisch halte ich die russische Regierung natürlich für sehr problematisch. Die Hetze gegen LGBTQ+ und das Gesetz über „homosexuelle Propaganda“ (5) sind einfach nur traurig. An sich hat das, was in Russland Gesetz ist, ja nichts mit dem Leben hier in Deutschland zu tun – aber Russlanddeutsche werden dennoch davon beeinflusst.

Ich würde mir wünschen, mehr aufgeschlossene, queere Russlanddeutsche in den Medien zu sehen.

Auch ich habe hier in Deutschland immer mal wieder homophobe Sprüche gehört, auch wenn darüber wenig diskutiert oder gesprochen wird. Tatsächlich sind es meine Russlanddeutschen Freund:innen, bei denen ich meine Identität vollkommen entfalten und ausleben kann. Zwar kann ich unter allen meinen Freund:innen so sein, wie ich bin, aber die Russlanddeutschen verstehen mich in beiden Punkten am besten, weil wir einen großen Teil unserer Kultur und Identität miteinander teilen. Allgemein kenne ich kaum andere queere Personen, solche mit Migrationsgeschichte noch weniger. Ich würde mir wünschen, mehr aufgeschlossene, queere Russlanddeutsche in den Medien zu sehen.

Zu Hause versuche ich, so „normal“ wie möglich zu sein, damit ich in ein bestimmtes Rollenbild eines Mannes passe. Gerade bin ich an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich lerne, was mein wahres Ich ist, welches ich Jahre lang zu verstecken versuchte. Ich würde mir wünschen, dass ich mich auch in meiner Familie ausleben könnte und dass sie mich akzeptiert. Nicht nur meine schwule Identität, sondern auch meine zum Teil femininen Züge. Ich bin anders als die Dominanzgesellschaft: Ich bin russisch, deutsch und schwul, und das ist auch gut so. Es ist schön, nicht wie jede:r andere zu sein – ich will aber wie jede:r andere behandelt werden.“

 

Protokoll von Antonia*, 18 Jahre alt

„Ich bin mit zwei Welten aufgewachsen. Mein Vater kommt aus dem heutigen Russland, meine Mutter aus dem heutigen Kasachstan, ich bin in Deutschland geboren. Wir sind Russlanddeutsche, ich würde mich aber eher als Deutsche identifizieren und nur hinzufügen, dass meine Eltern aus der UdSSR kommen. Trotzdem bin ich sehr froh darüber, mit dem Deutschen und dem Russischen aufgewachsen zu sein, weil ich dadurch eine größere Sichtweite habe, als wäre es nur eine gewesen.

Ich bin allgemein ein sehr offener Mensch. Ich finde jeder Mensch hat irgendetwas Schönes an sich. Daher identifiziere ich mich grundlegend als bisexuell, vielleicht bin ich aber auch pansexuell. Würden meine Eltern oder gar Großeltern das erfahren – und das ist kein Scherz – würden sie mich in die Kirche schicken. Meine Großeltern würden sagen, das sei nicht „normal“. Auch wenn sie nicht viel dafür können, dass sie so denken, haben Angehörige der ehemaligen UdSSR ein sehr starkes Bild von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“: Der Mann muss stark sein, die Frau muss hübsch aussehen. Meine Eltern sagen auch beispielsweise, dass sie es eklig finden, wenn sich zwei Männer auf der Straße küssen oder wenn Männer in ihren Augen zu „weiblich“ aussehen.

Ich gehe komplett offen mit meiner Bisexualität um – außer meiner Familie gegenüber. Wahrscheinlich geht es vielen anderen Russlanddeutschen, die queer sind, ähnlich.

In Russland sind die Menschen aggressiver gegenüber LGBTQ+ Personen, allein schon aufgrund der Gesetzeslage (6). Auch wenn es die gleichgeschlechtliche Ehe in Deutschland noch nicht so lange gibt und auch ich öfter Unverständnis für meine Bisexualität erfahren habe, ist die Kultur in Deutschland offener demgegenüber. Hier gibt es eine größere queere Community und wenn sich jemand homophob äußert, wird das in der Öffentlichkeit stark kritisiert. Hier wissen alle meine Freunde von meiner Bisexualität. Ich gehe damit komplett offen um – außer meiner Familie gegenüber. Wahrscheinlich geht es vielen anderen Russlanddeutschen, die queer sind, ähnlich. Persönlich kenne ich kaum welche, die offen damit umgehen.

Ich ziehe mich schon immer so an, wie ich gerade Lust habe. Manchmal empfinde ich Body-Dysmorphia und würde am liebsten meine Brüste abbinden. Dann ziehe ich eher weite Kleidung an. Da hat mich mein Vater einmal gefragt, ob ich auch auf Frauen stehen würde, weil ich mich seiner Meinung nach wie ein Junge anziehen würde. Darauf antwortete ich plump: „Was, wenn ja?“ Wir haben uns schweigend angestarrt und es nie wieder angesprochen. Es war ihm wirklich unangenehm. Auch meine Mutter hat schon sehr oft zu mir gesagt, ich sei überhaupt nicht weiblich, zum Beispiel als ich mir die Haare seitlich abrasiert habe. Wenn ich mir vorstelle, meinen Eltern zu sagen, dass ich bisexuell bin, empfinde ich Angst.

Ich habe es für mich folgendermaßen abgeklärt: Solange es für mich noch nicht so wichtig ist, ich noch keine Partnerin habe, bringe ich es auch nicht zur Ansprache. Das wird wahrscheinlich solange der Fall sein, wie ich noch finanziell von meinen Eltern abhängig bin; ich möchte mich nicht selbst gefährden. Trotzdem wünsche ich mir von meinen Eltern, dass sie mir meine Weiblichkeit nicht absprechen. Ich musste mir über die Jahre ein dickes Fell anschaffen bis ich endlich sagen konnte: Ich fühle mich schön, auch wenn ich nicht dem weiblichen Ideal entspreche.“

 

*Pseudonym, der echte Name ist der Redaktion bekannt.

 

Interview: Xenia Miller

 


(1) Sexuelle Identität: Damit ist das Selbstverständnis einer Person über ihre sexuelle Orientierung gemeint. Allerdings nicht nur, mit welchen Personen eine sexuelle oder romantische Beziehung eingegangen wird, sondern auch die geschlechtliche Identität, also ob man sich mit dem von der Gesellschaft zugeschriebenen Geschlecht identifiziert oder beispielsweise transgender oder intersexuell ist.
 
(2) LGBTQ+: LGBTQ+ (Lesbian, Gay, Bi, Trans, Queer) ist ein Überbegriff für Personen, die homosexuell, bisexuell, transgender, oder queer sind. Das Plus steht für weitere sexuelle und geschlechtliche Identitäten. Alternativ kann auch von LSBTI* (Lesbisch, Schwul, Bi, Trans, Inter) oder LGBTQIA* (Lesbian, Gay, Bi, Trans, Queer, Inter, Asexual) gesprochen werden.
 
(3) Homophobie: Homophobie beschreibt die Feindseligkeit gegenüber LGBTQ+, die sich in Beleidigungen bis hin zu Gewalt äußern kann. Weil die Endung „-phobie“ suggeriert, dass es sich um eine Angst im Sinne eines psychischen Krankheitsbildes handeln würde, schlagen Expert:innen den alternativen Begriff „Heterosexismus“ vor. Dieser beschreibt die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität.
 
(4) Queer: Ursprünglich wurde „queer“ im englischsprachigen Raum als diskriminierende Beleidigung verwendet. Mittlerweile wird der Begriff aber als Selbstbezeichnung verwendet. Er kann als Überbegriff für LGBTQ+ gesehen werden, oder aber als Bezeichnung für Personen, die sich nicht im binären System von sexueller Identität verorten.
 
(5) Das Gesetz über „homosexuelle Propaganda“ in Russland: Seit 1993 ist Homosexualität in Russland entkriminalisiert. Doch seit 2013 verbietet ein Gesetz die „Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen gegenüber Minderjährigen“. Aufgrund dieses Gesetzes müssen Aktivist:innen und Verbände in manchen Fällen für ihren Einsatz für LGBTQ+-Rechte Geldstrafen bezahlen.
 
(6) Rechtslage in Deutschland: In Deutschland gilt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), welches auf der sexuellen Identität basierende Diskriminierung verbietet. Seit 2017 dürfen in Deutschland auch homosexuelle Paare heiraten. Seit 2018 gibt es auf offiziellen Dokumenten neben „männlich“ und „weiblich“ auch den Eintrag „divers“. Allerdings ist es unter dem aktuellen Transsexuellengesetz (TSG) für Trans Personen erschwert, den eigenen Namen zu ändern. Auch für eine Operation zur Geschlechtsangleichung gibt es viele Hürden, so muss vorher durch ein:e Therapeut:in ein Gutachten erstellt werden.
 
(7) Body-Dysmorphia/Gender-Dysphoria: Body-Dysmorphia oder Gender-Dysphoria empfinden Personen, die sich nicht mit ihrem Körper identifizieren können. Das kann daran liegen, dass der Körper von seinem von außen wahrgenommenen Erscheinungsbild her nicht zu der sexuellen Identität passt, die man hat. Außerdem kann es daran liegen, dass man eine starke Unzufriedenheit mit seinem Körper im ästhetischen Sinne hat.
 

Quellen: European Institute for Gender Equality, Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Lesben- und Schwulenverband, The Human Rights Campaign, Auswärtiges Amt, Bundeszentrale für politische Bildung, Leuchtlinie (Beratung für Betroffene von rechter Gewalt in Baden-Württemberg)




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