Die Familie meiner Großmutter stammte aus Svyatsk, einem Dorf an der russisch-belarussischen Grenze. 1910 kam dort auch ihr Großonkel David Abramowitsch Dragunskij zur Welt. Die sozialen Umbrüche der Oktoberrevolution ebneten ihm einen Weg aus dem ärmlichen Milieu des osteuropäischen Judentums: Nach dem Schulabschluss ging David nach Moskau, später landete er beim Militär. Zum Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion war er bereits Kommandeur eines Panzerbataillons. Dragunskij beteiligte sich an der Befreiung Kyivs und Prags, seine Panzer kämpften in der Schlacht um Berlin. Für seine Tapferkeit ehrte man ihn zwei Mal als Held der Sowjetunion – die höchste militärische Auszeichnung. 1943 erfuhr David im Lazarett vom Schicksal seiner Familie: Einer seiner Brüder verbrannte 1941 in seinem Panzer, ein anderer fiel bei Stalingrad. Deutsche Einsatzkommandos erschossen in Svyatsk seine Eltern, seine Schwester und 70 weitere Verwandte. Nach Kriegsende wandte sich Dragunskij auch deshalb an das Jüdische Antifaschistische Komitee. Er bat die im Krieg gegründete Organisation sowjetisch-jüdischer Intellektueller, sich Bestattung und Gedenken der Shoah-Opfer anzunehmen. Vergeblich: Getrieben von Paranoia und einem erstarkenden Antisemitismus nach der israelischen Staatsgründung ließ Stalin den Großteil des Komitees wenig später hinrichten, das spezifische Erinnern an jüdische NS-Opfer blieb im Sowjetreich marginalisiert. Auch später setzte sich Dragunskij für jüdische Kulturschaffende ein, war aber zugleich Sprachrohr antizionistischer Propaganda. Der ranghohe Militär und linientreue Parteikader lehnte Israel und jüdische Immigrationsbestrebungen ab. Erst in den späten 1980ern beanstandete Dragunskij in einem Interview öffentlich den Antisemitismus seiner Heimat.
Diese Nachkriegsbiographie bündelt die Ambivalenz sowjetisch-jüdischer Parteikarrieren. Dennoch zählt der hoch dekorierte Panzerkommandeur zu den berühmtesten Jüd:innen, die mit der Waffe gegen die Deutschen kämpften. Vermittelt über meinen Vater prägt mich der Stolz, mit einem Kriegshelden verwandt zu sein. Wie viele andere postsowjetische Jüd:innen wuchs ich auf mit Liedern, Filmen und Erzählungen über den ‚Großen Vaterländischen Krieg‘. An jedem 9. Mai griff ich mit Selbstverständlichkeit zum Hörer und dankte dem – bis vor kurzem noch lebenden – Großvater mütterlicherseits für seinen Beitrag zum Sieg über den Faschismus. Kaum ein anderer Feiertag ist für mich derart emotional besetzt wie dieses Datum.
Entrüstet beobachte ich gerade deshalb die zunehmende Vereinnahmung des Gedenkens durch die russische Kriegsmaschine, die das Narrativ eines antifaschistischen Verteidigungskampfes zur Rechtfertigung der völkerrechtswidrigen Invasion der Ukraine nutzt. Ich erinnere mich an die Worte meines Opas vom 9. Mai 2023, im Angesicht des Mordens in der Ukraine sei dies nicht länger sein Sieg. Nun reflektiere ich, zu welchem Grad das Narrativ meiner Kindheit schon immer auf die Rolle Russlands zentriert war, den Hitler-Stalin-Pakt ausblendete und letztlich auch ein Vehikel zur Rechtfertigung sowjetischen Terrors war. Doch frage ich mich auch, inwiefern die deutsche Öffentlichkeit den 9. Mai als potenziellen Feiertag der mehr als 200.000 Jüd:innen wahrnimmt, die seit den 1990ern als „jüdische Kontingentflüchtlinge“ aus den einstigen Sowjetrepubliken nach Deutschland kamen. Denkt sie an diesem Tag einzig an die „Russen“ im Treptower Park? Weiß sie, dass Wehrmacht und Einsatzgruppen primär auch in der Ukraine und Belarus wüteten? Und assoziiert sie Jüdinnen und Juden nicht eher mit 9. November und 27. Januar?
In Deutschland zirkulieren unvollständige und verzerrte Bilder, die den Holocaust mit niedergebrannten deutschen Synagogen und Auschwitz, nicht aber mit Massenerschießungen an der Ostfront assoziieren. Kaum jemand denkt beim Wort „Jude“ an nicht anerkannte Studienabschlüsse und Altersarmut, Streitereien über Russlands Angriffskrieg oder auch einfach an eingelegte Gurken oder Olivier Salat.
Der „Schicksalstag der Deutschen“ und der Jahrestag der Befreiung von Auschwitz spielen zumindest in der Gedenkpraxis meiner Familie eine untergeordnete Rolle. Bedeutend sind andere Daten und Ereignisketten, die nicht nur David Dragunskijs Leben eine Richtung vorgaben: Jüdische Emanzipation und Assimilation in der frühen Sowjetunion; 500.000 jüdische Kämpfer:innen in der Roten Armee; mehr als 2,5 Millionen sowjetische Shoah-Opfer; Stalins antisemitischer Kurswechsel gefolgt von einem staatlich verordneten „Antizionismus“, der nicht zwischen „Zionist“ und „Jude“ unterschied und auch meinen Eltern in Bildung und Beruf Steine in den Weg legte. Diese Geschichten kennen hierzulande nur wenige, dabei stammt der Großteil der in Deutschland lebenden Jüd:innen von der Borschtsch-Essenden Seite des Eisernen Vorhangs. Mangelndes Interesse für migrantische Narrative ist in Deutschland nichts Neues, doch das Unwissen reicht bis ins Kernthema deutscher Erinnerungskultur: Eine Freundin, die seit sechs Jahren durch das Denkmal für die ermordeten Juden Europas führt, erzählte mir, kaum eine Schulklasse habe von den Massenerschießungen in Babyn Jar gehört. Stattdessen überschätzten die Schüler:innen die Zahl aus Deutschland stammender Shoah-Opfer um das Zehnfache.
Hierzulande zirkulieren demnach unvollständige und verzerrte Bilder, die den Holocaust mit niedergebrannten deutschen Synagogen und Auschwitz, nicht aber mit Massenerschießungen an der Ostfront assoziieren. Mehr noch: Kaum jemand denkt beim Wort „Jude“ an nicht anerkannte Studienabschlüsse und Altersarmut, Streitereien über Russlands Angriffskrieg oder auch einfach an eingelegte Gurken oder Olivier Salat. Max Czollek hat deshalb Recht: Die Verbildlichung jüdischer Menschen folgt in Deutschland nicht der Empirie, sondern „der Logik der deutschen Erinnerungskultur“ (Czollek 2025). Sie bietet in doppelter Hinsicht keinen Platz für postsowjetisch-jüdische Positionen, denn sie negiert innerjüdische Vielfalt genauso wie die Leidens- und Verfolgungsgeschichten in Deutschland lebender Migrant:innen. Über die Stellung postsowjetischer Jüd:innen in der bundesdeutschen Erinnerungskultur nachzudenken, liefert deshalb vielleicht Ansatzpunkte für bescheidenere, offenere und selbstkritischere Formen des Erinnerns.
Erinnern als kollektive Selbsterkenntnis
In jeder Kultur existiert eine Vielzahl von Erzählpraktiken und Gedenkritualen, in denen eine Gruppe ein Bild von ihrer Vergangenheit skizziert. Nicht zum Selbstzweck: Die Erinnernden denken immer auch über die Beziehung dieses – oftmals unschönen – Vergangenen zu sich und ihrer Gegenwart nach. Erinnerungsarbeit ist deshalb vor allem Arbeit am kollektiven Selbstverständnis und Erinnerungskultur eher eine Politik der Erinnerung: Sie besteht aus teils staatlich reglementierten Handlungen, die in der Verflechtung mit politischen Strategien sowie medial und institutionell perpetuierten Diskursen ihre Form annehmen.
Zahllose Reden und Gedenkfeiern folgen einem festen Drehbuch. Deutsche Poltiker:innen und Institutionen inszenieren dort die vermeintlich geglückte Bewältigung einer katastrophischen Vergangenheit. Dieses Skript kennt im Wesentlichen zwei Rollen: Spielen die Deutschen die geläuterten Täter:innen, kommt Jüd:innen und ihren Institutionen die Rolle von vergebenden Opfern und der Vergangenheit verschriebenen „Erinnerungswächtern“ zu.
Im postnazistischen Deutschland kommt der Erinnerung an Weltkrieg und Shoah – aus nachvollziehbaren Gründen – eine herausgehobene Rolle bei dieser kollektiven Selbstvergewisserung zu. Der Soziologe Michal Bodemann analysierte diese identitätsstiftende Praxis als ‚Gedächtnistheater‘, vor allem Max Czollek popularisierte in den letzten Jahren dieses Konzept. Mit dem Bild einer Theaterbühne betonen Bodemann und Czollek, dass zahllose Reden und Gedenkfeiern einem festen Drehbuch folgen. Deutsche Poltiker:innen und Institutionen inszenieren dort die vermeintlich geglückte Bewältigung einer katastrophischen Vergangenheit. Dieses Skript kennt im Wesentlichen zwei Rollen, wobei klar sein dürfte, wer den größten Redeanteil hat: Spielen die Deutschen die geläuterten Täter:innen, kommt Jüd:innen und ihren Institutionen die Rolle von vergebenden Opfern und der Vergangenheit verschriebenen „Erinnerungswächtern“ (Bodemann 2025) zu. Andere Migrant:innen kommen indes gar nicht vor, doch sollten wir auch nicht vergessen, dass diese Aufführung lange Zeit anderen Regeln folgte. Das Schweigen der Täter:innen und eine gesamtgesellschaftliche Erinnerungsabwehr gaben nur langsam einer Konstellation statt, in der das Gedenken an die Shoah und das Eingeständnis deutscher Schuld – mit Astrid Messerschmidt gesprochen – „staatstragendes Bekenntnis“ wurde (Messerschmidt 2018).
Diese von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren verfolgte Form des Erinnerns widersetzt sich zweifellos (neu)rechten Versuchen, die Zentralität des NS für das deutsche Selbstbild in Frage zu stellen. Dennoch birgt sie eigene Tücken und begünstigt auf anderer Ebene Verzerrungen und Auslassungen. Auch Messerschmidt moniert angesichts des gegenwärtig florierenden Rassismus und Antisemitismus eine unangebrachte „Selbstgewissheit im Umgang mit eigener Verbrechens- und Gewaltgeschichte“ (Messerschmidt 2018). So werde zumindest implizit vermittelt, die Lehren aus der Vergangenheit seien bereits gezogen. Nun gelte es einzig, sie den Nachkommenden und insbesondere Migrant:innen zu vermitteln.
Diese anders gelagerte Schlussstrichmentalität ist nicht losgelöst vom primären Einsatz deutscher Erinnerungspolitik. Durch Betonung der erfolgreichen Aufarbeitung der NS-Geschichte und einer vorbildlichen Übernahme von Verantwortung soll sie – trotz allem – einen positiven Bezug zum Deutsch-Sein gewähren: „Wir können wieder aufrecht gehen, weil wir aufrichtig waren“, meinte der Historiker Eberhard Jäckel anlässlich des fünfjährigen Bestehens des Berliner Holocaust-Mahnmals. Aus philosophischer Warte lässt sich anmerken: Das Selbstbild der vermeintlichen ‚Erinnerungsweltmeister‘ geht davon aus, das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte sei bereits völlig durch das Gedenken erfasst und erschöpfend ausgedeutet. Diese Konzeption rechnet die NS-Zeit einer Vergangenheit zu, die als erfolgreich bewältigte hinter uns liegt. Störend sind Verweise darauf, dass das antisemitische und rassistische Erbe des NS auch heute in der Mitte unserer Gesellschaft fortwirkt. Unliebsam sind alle Momente, die an das (eigentliche?) Scheitern von Aufarbeitung und ,Wiedergutmachung‘ erinnern. Befremdlich alle Jüd:innen, die sich nicht so recht in das Bild vergebender Opfer fügen lassen. Bündelt die Figur des:der postsowjetischen Jüd:in nicht all das? Welchen Effekt hätte es dann, sie auf der Gedächtnisbühne nach vorne treten zu lassen?
Neue deutsche Juden?
Als (meist) Russischsprachige mit ihren sowjetischen Goldkronen auf den Zähnen erlebten postsowjetische Jüd:innen in Deutschland – auch in den jüdischen Gemeinden selbst, die mit ihrer Integration betraut wurden – Ressentiments über die ‚rückständigen‘ und ‚unzivilisierten‘ Osteuropäer:innen, die letztlich schon den Krieg um Lebensraum im Osten grundierten. Die Einladung der Kontingentflüchtlinge war als Geste der ‚Wiedergutmachung‘ angedacht. In Anbetracht der verschleppten und niemals ernstlich geführten Debatten über die Anerkennung von Rentenansprüchen und der florierenden Altersarmut unter jenen (mittlerweile größtenteils verstorbenen) Jüd:innen, die Weltkrieg und Shoah tatsächlich miterlebten, blieb sie in vielen Teilen ein symbolischer Akt. Frisch migrierte Rotarmist:innen, die in den jüdischen Gemeinden am 9. Mai mit Wodka auf ihren entbehrungsreichen Sieg anstießen, provozierten in den 1990ern laut der Soziologin Karen Körber „Irritation und verärgerte Reaktionen“ (Körber 2018). Den alteingesessenen Jüd:innen, deren Verwandte in den Vernichtungslagern umkamen, war der feierliche Umgang mit dem Kriegsende unverständlich, die deutsche Dominanzgesellschaft bekam diese Szenen meist wohl gar nicht mit.
Postsowjetische Jüd:innen haben eine Doppelstellung inne, die die deutsche Erinnerungspolitik an ihre Grenzen stößt. Als ‚Juden‘ sind sie als Opfer deutschen Vernichtungswahns adressierbar, als ‚postsowjetische Migranten‘ partizipieren sie eher an der sowjetischen Erzählung vom Sieg im ‚Großen Vaterländischen Krieg‘ und sind Gegenstand deutscher Integrationsdiskurse. Vielleicht zieht die Erinnerungspolitik es deshalb vor, die Spezifizität ihrer migrantischen Erfahrungen im homogenen Bild jüdischen Lebens in Deutschland aufzulösen.
Deshalb denke ich, dass postsowjetische Jüd:innen eine Doppelstellung innehaben, die die deutsche Erinnerungspolitik an ihre Grenzen stößt. Als ‚Juden‘ sind sie als Opfer deutschen Vernichtungswahns adressierbar, als ‚postsowjetische Migranten‘ partizipieren sie eher an der sowjetischen Erzählung vom Sieg im ‚Großen Vaterländischen Krieg‘ und sind Gegenstand deutscher Integrationsdiskurse. Vielleicht zieht die Erinnerungspolitik es deshalb vor, die Spezifizität ihrer migrantischen Erfahrungen im homogenen Bild jüdischen Lebens in Deutschland aufzulösen. So reflektiert auch Bodemann:
„[Ü]ber die letzten Jahrzehnte [wurde] das neue, osteuropäisch inflektierte deutsche Nachkriegsjudentum mit einer altehrwürdigen Geschichte ausgestattet. So wird heute nun von Juden und Deutschen gemeinsam das vergangene deutsche Judentum auf der Bühne des Gedächtnistheaters wiederaufgeführt. Die großen Figuren des alten deutschen Judentums […] werden so, nostalgisch, retrotopisch, zur Genealogie der jüdischen Neueinwanderer gemacht.“ (Bodemann 2025)
Deutschlands ‚neue‘ Jüd:innen in eine geglättete, ‚deutsche‘ Geschichte einzuspeisen, negiert ihre eigenen Errungenschaften, ihre teils mitgebrachten Erfahrungen und Traumata und letztlich ihr Migrantisch-Sein. Lässt sich demgegenüber nicht auch ein anderer Umgang mit dem Erbe dieser Gruppe imaginieren? Ein Umgang, der ihrer uneindeutigen Randstellung zwischen deutschen und anderen Geschichten und Erinnerungsdiskursen Rechnung trägt? Deutet sich am Einbezug dieser jüdischen und doch auch migrantischen Positionen nicht gar die Notwendigkeit an, die deutsche Erinnerungspolitik im Lichte vielfältiger Migrationsbewegungen neu zu denken?
Vielstimmiges Erinnern
Postsowjetischen Jüd:innen und ihren Geschichten – selbstverständlich gibt es nicht nur eine – einen Ort innerhalb deutscher Erinnerungsdiskurse einzuräumen, heißt zunächst sicherlich, diesen Menschen selbst das Wort zu geben. Diese Geste würde die Rollenverteilung im Gedächtnistheater entscheidend durcheinanderbringen, auf inhaltlicher Ebene stieße sie die Pforte zu einer Pluralität an Themen auf, die letztlich weit über den Holocaust und die Geschichte des NS hinausweisen.
Zunächst wären da aber dennoch die Massenerschießungen an der Ostfront, die mehr Aufmerksamkeit in Debatten um die Shoah verdienen. Genauso muss aber auch der Einsatz von Jüd:innen in Roter Armee, Partisanenverbänden und hinter der Front mehr Beachtung finden. Antisemitische Mordaktionen und jüdische Wehrhaftigkeit stehen dabei in einem größeren Kontext: Der Vernichtungskrieg im Osten mit fast 30 Millionen Toten. Eine Erinnerungskultur, die sich die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit auf die Fahne schreibt, muss folglich auch dem Schicksal von Ostarbeiter:innen und sowjetischen Kriegsgefangenen gedenken, der Blockade von Leningrad, den zahllosen niedergebrannten Dörfern und anderen Gräueln der deutschen Besatzung. Sie müsste sich fragen, welche Kontinuität nicht nur Antisemitismus, sondern auch rassistische Ressentiments gegen Sinti:zze, Rom:nja und Osteuropäer:innen in der deutschen Gesellschaft haben – und das nicht nur auf Ebene tiefsitzender Vorurteile. Ich denke auch an den Arbeitsmarkt, zu dem Kontingentflüchtlinge sowie andere osteuropäische und postsowjetische Migrant:innen etwa dank nicht anerkannter Studiendiplome einen erschwerten Zugang hatten. Bis heute bleibt ‚der Osten‘ für die deutsche Wirtschaft Quelle billiger und ausbeutbarer Arbeitskraft. Hiervon ausgehend ließe sich freilich keine reine Erfolgsgeschichte spinnen, vielmehr rücken auch irreversible Verfehlungen deutscher ‚Aufarbeitung‘ und ‚Wiedergutmachung‘ – auch bei der Zahlung von Reparationen und Entschädigungen – in den Vordergrund. Die Vergangenheit wäre hier eine, die nicht aufzuwiegen ist, es niemals war und gerade deshalb nicht vergehen will. Vielleicht ist Einsicht in das Scheitern von Verantwortungsübernahme aber gerade der nötige Ansporn für ein selbstkritischeres und solidarischeres Gedenken?
Dabei müssten postsowjetische Jüd:innen letztlich auch mit ihren mitgebrachten Geschichten wie der vom Überleben in der realsozialistischen Diktatur einen Platz auf der Bühne deutscher Erinnerungspolitik finden. Darja Klingenbergs prägnante Formel aufgreifend, ließe sich jüdische Geschichte in Deutschland als ein Bündel unter vielen „transnationalen Verflechtungsgeschichten” erzählen und erinnern (Klingenberg 2023). Das Gedächtnistheater mit seinen zwei festen Rollen würde so einer Mehrstimmigkeit von Erzähler:innen und Geschichten Platz geben. Diese wären keinem vereinheitlichenden Narrativ untergeordnet, das ‚Einheimische‘ von sich selbst erzählen. Anstelle der einen ‚deutschen Geschichte‘, hätten wir viele Erzählungen, die teils in Deutschland spielten, von Deutschland handelten oder als Konsequenz von Flucht, Krieg, Vertreibung und Migration mit Deutschland und ‚den Deutschen‘ verknüpft wären. Diese Geschichten, die ganz verschiedene Gruppen tradieren und mitbringen, wären auch solche von Gewalt und historischem Unrecht. Neben dem NS hätten sie sicherlich auch den europäischen Kolonialismus mit seinen ebenfalls in die bundesdeutsche Gegenwart hineinragenden Nachwirkungen als prominentes Sujet.
In dieser Vielstimmigkeit blieben die Verweise auf die Shoah und auf all jene Geschichten, die als Folge deutschen Vernichtungswahns nicht einmal mehr erzählbar sind, für jede Bestimmung des Deutsch-Seins weiterhin unverzichtbar. Dennoch würde diese Erinnerungspraxis eine bis lang unzureichend gesehene Pluralität überraschender Verantwortungspunkte und schlichtweg anderer Erinnerungen offenlegen. Die Verflechtung teils auseinanderlaufender und sich teils überschneidender Erzählstränge schüfe eine erweiterte Bühne für die Aushandlung deutscher Selbstbilder – in einem Prozess, der so unabschließbar bliebe wie das Erinnern selbst.
Literatur:
Bodemann, Y. Michal. 2025. Der jüdisch-deutsche Bruch. Die 1700 Jahre, Erinnerungspolitik und Staatsjudentum in Deutschland. In: Die Erfundene Gemeinschaft. Erinnerungspolitik, Staat und Judentum in Deutschland, hrsg. Y. Michal Bodemann. Berlin: Verbrecher Verlag.
Czollek, Max. 2025. Beschränkte Sichtbarkeit. Über den Zusammenhang von Erinnerungskultur und der Wahrnehmung jüdischer Lebendigkeit. In: Die Erfundene Gemeinschaft. Erinnerungspolitik, Staat und Judentum in Deutschland, hrsg. Y. Michal Bodemann. Berlin: Verbrecher Verlag.
Klingenberg, Darja. 2023. Große Zahlen, Erfolgsgeschichten und was man anders erzählen könnte. Bilanz aus dem Fest- und Gedenkjahr „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“. In: Jalta. Positionen zur Jüdischen Gegenwart (8).
Körber, Karen. 2017. Widerstreitende Erinnerungen. In: Neues Judentum – altes Erinnern? Zeiträume des Gedenkens, hrsg. Dmitrij Belkin, Lara Hensch, Eva Lezzi. Berlin: Hentrich & Hentrich.
Messerschmidt, Astrid. 2018. Selbstbilder in der postnationalsozialistischen Gesellschaft. In: Jalta. Positionen zur Jüdischen Gegenwart (4).
Anton Livshits ist Kulturwissenschaftler. Momentan steht er am Anfang eines Dissertationsprojekts, das sich mit dem politischen Potenzial von Praktiken des kreativen Aneignens und Neuerzählens von Geschichten auseinandersetzt. Als politischer Bildner und Journalist befasst er sich zudem mit Rassismus und Antisemitismus sowie dem russischen Angriffskrieg mit seinen vielfältigen Auswirkungen.
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