„Eine ukrainische Kartoffel hat mehr Intelligenz als DU, denn sie wächst auf russischem Boden“, „Russland ist die einzige Weltmacht die den westlichen Zionfaschisten die Stirn bieten kann und wird“ [sic!], „Russophobie ist bei Polen angeboren… Das weiß jede Kartoffel“– persönliche Beleidigungen, Verschwörungstheorien und Rassismus sind leider ein fester Bestandteil von Social Media. Gerade bei einem polarisierenden Thema wie der russischen Invasion der Ukraine kochen bei verunsicherten User:innen die Emotionen hoch, während Trolle den Diskurs absichtlich weiter vergiften. Social Media Plattformen wie Twitter leben (zumindest bislang) von Werbeanzeigen. Krawall und Polarisierung bringen die größten Klickzahlen und werden somit durch die Algorithmen gefördert. Wie sind unter diesen Umständen seriöse Wissenschaftskommunikation und eine sachliche Diskussionskultur möglich?
Entwicklung meines Accounts auf Twitter
Ich habe 2016 meinen Twitter Account eher zum Spaß angelegt und war zunächst auch wenig aktiv. Zwar habe ich gelegentlich auch über meine Arbeit als Historiker geschrieben, meist aber über Alltagsthemen. Meine Follower:innen, also Nutzer:innen, die meinem Account aktiv folgen, waren zunächst nur ein paar dutzend Freund:innen und Kolleg:innen. Im März 2020 hatte ich lediglich 2.374 „Impressions“, also Blicke, die andere User:innen der Plattform auf meine Tweets geworfen haben (wobei die Zählweise undurchsichtig ist und sicherlich nicht die tatsächliche Anzahl der Leser:innen wiedergibt).
Mit der Eskalation des Krieges im Februar 2022 und der Großinvasion russischer Truppen in die Ukraine, stieg sehr plötzlich das Interesse an wissenschaftlicher Einordnung. Die Accounts von Kolleg:innen aus der osteuropäischen Geschichte und Slavistik wuchsen nun deutlich an und auch ich hatte immer mehr Follower:innen. Ich begann nun damit meine Tweets zu strukturieren und konzentrierte mich auf drei Themenbereiche: 1. Tagesaktuelle Einordnung der Ereignisse mit einem Blick auf russische, polnische und ukrainische Quellen. 2. Übersetzungen (überwiegend aus dem Russischen ins Deutsche) und 3. Die Präsentation von historischen Quellen in Form von kurzen Threads (mehreren hintereinander gereihten Tweets).
Das Entsetzen über den russischen Angriffskrieg hat in der Geschichtswissenschaft und Slavistik für ein Umdenken gesorgt – während viele Kolleg:innen zuvor die öffentliche Aufmerksamkeit eher gescheut haben, auch aus Angst die wissenschaftliche „Objektivität“ zu gefährden, sahen viele nun die Notwendigkeit gegeben, eine größere Öffentlichkeit zu erreichen.
Zusätzlich habe ich mich mit Kolleg:innen aus der Wissenschaft über Twitter vernetzt, so dass wir uns gegenseitig mehr Aufmerksamkeit verschafft und Informationen ausgetauscht haben. Das Entsetzen über den russischen Angriffskrieg hat in der Geschichtswissenschaft und Slavistik für ein Umdenken gesorgt – während viele Kolleg:innen zuvor die öffentliche Aufmerksamkeit eher gescheut haben, auch aus Angst die wissenschaftliche „Objektivität“ zu gefährden, sahen viele nun die Notwendigkeit gegeben, eine größere Öffentlichkeit zu erreichen. Man wollte von den Fehlern nach 2014 lernen, als nach dem „Euromajdan“, der russischen Annexion der Krim und dem „verdeckten“ Einmarsch im Donbas, die Ukraine kurzzeitig sehr viel Aufmerksamkeit erfuhr und dann wieder aus der Öffentlichkeit verschwand. Die Zahl meiner Follower:innen ist inzwischen auf 8.046 angestiegen (Stand 01.08.2023) und im Juni 2023 hatte mein Account insgesamt 2,54 Millionen Impressions. Damit erreicht man ein deutlich größeres Publikum als mit jeder Fachpublikation, die in der Regel nur ein kleiner Kreis aus Expert:innen liest.
Zwischen Kritik und Trollen: Wie kann man seriös streiten?
Je mehr Aufmerksamkeit man bekommt, desto mehr Kommentare tauchen unter den Tweets auf. Grundsätzliches Problem bei Twitter ist, dass man in 280 Zeichen nicht mehr als ein paar Stichpunkte unterbringen kann – selbst wenn man einen Thread auf 2.800 Zeichen ausdehnt, reicht es nicht für eine ausführliche Analyse. Somit muss man Thesen zuspitzen und Inhalte verkürzen. Deswegen folgt immer wieder, auch berechtigte, Kritik von Kolleg:innen und anderen User:innen. Oft antworte ich darauf so, dass ich auf weiterführende Literatur, Quellen oder Texte verweise. Dagegen ist der Vorwurf, etwas absichtlich wegzulassen oder gar zu „verheimlichen“ ein beliebtes Mittel der Desinformation. In solchen Fällen lassen sich Trolle auch von weiterführenden Texten nicht beeindrucken – weitere Diskussion ist da in der Regel vergebens.
Die Frage, wann man überhaupt auf eine Diskussion eingehen soll, ist nicht einfach zu beantworten. Offensichtliche Trolle (wenige Follower:innen, erst vor kurzem registriert, gefaktes Profilfoto), die mit persönlichen Beleidigungen (wie bei den Anfangsbeispielen) um sich werfen, werden natürlich sofort geblockt. Wenn ich aber weiß, dass sich hinter einem Account eine reale Person befindet, dann gehe ich gelegentlich auf eine Diskussion ein. Manchmal bekommt man dadurch wertvolle Hinweise auf faktische Fehler oder eine unklare Argumentation. Im Idealfall gelingt es auch, eine Person zu überzeugen, indem man Belege und Literatur heraussucht (was anstrengend ist und wofür nicht immer Zeit da ist). Doch häufig gerät man in eine Spirale aus Ablenkungen, die (bewusst) vom ursprünglichen Thema wegführen. Dieses „Derailment“ wird von Trollen oder auch politischen Akteur:innen angewendet, um die ursprünglichen Argumente zu verwischen.
Dabei ist es nicht immer möglich Emotionalisierung zu vermeiden,
zweitweise habe auch ich mit meinen Vorsätzen gebrochen und polemisch
und zugespitzt argumentiert. Wichtig ist dabei seine Kommunikation zu
reflektieren und zur Not auch mal eine Pause einzulegen.
Wenn man merkt, dass das Gegenüber nicht auf Argumente eingeht, ist es daher besser die Diskussion abzubrechen – bei Twitter gibt es dafür die Funktion des „Ausblendens“.
Dabei ist es nicht immer möglich Emotionalisierung zu vermeiden, zweitweise habe auch ich mit meinen Vorsätzen gebrochen und polemisch und zugespitzt argumentiert. Wichtig ist dabei seine Kommunikation zu reflektieren und zur Not auch mal eine Pause einzulegen. Tatsächlich ist auffällig, dass Kolleg:innen, die man persönlich kennt, auf Social Media anders diskutieren als im direkten Kontakt. Dies ist dem Aufbau und der Struktur von Plattformen wie Twitter geschuldet, die den „Krawall“ begünstigen.
Was kann ich wissen? Umgehen mit der Informationsflut
Auf Social Media Plattformen prasseln Informationen, Bilder und Videos oft unmittelbar und in großer Zahl auf die User:innen ein. Zwischen Fakt und Fälschung zu unterscheiden ist dabei sehr schwierig. Bei der Kommentierung tagesaktueller Meldungen ist daher große Vorsicht geboten. Beispiel war etwa der Raketeneinschlag im polnischen Przewodów am 15. November 2022. Sofort verbreiteten sich Gerüchte, die sogar von seriösen Nachrichtenagenturen aufgegriffen wurden, dass es sich um eine russische Rakete gehandelt haben könnte. Die Diskussionen auf Social Media erhitzten sich sehr schnell, bis hin zu Forderungen den „Bündnisfall“ der NATO auszurufen. Tatsächlich war es in diesem Fall aber am sichersten, die Informationen der polnischen Behörden vor Ort, des polnischen Innenministeriums und auch der NATO selbst abzuwarten. Alle seriösen Institutionen warnten eindringlich vor Gerüchten und Spekulationen. Tatsächlich erwies sich im Verlauf der Ermittlungen, dass die Rakete nicht russischen Ursprungs war.
Gelegentlich ist es daher sinnvoller abzuwarten und möglichst viele unterschiedliche Quellen zu prüfen. Dennoch ist es auch mir schon passiert, dass ich auf Fälschungen oder falsch zugeordnete Bilder/Texte hereingefallen bin. Oftmals sind Fakes auf Social Media keine reinen Erfindungen, sondern echte Ausschnitte, Zitate oder Videos werden bewusst verkürzt, aus ihrem Kontext gerissen oder mit einem manipulativen Text versehen. In der Regel stammen Fälschungen aus russischen „Trollfabriken“ oder von pro-russischen User:innen aus der rechts- oder linksextremen Szene.
Doch auch von Seiten der Ukraine muss man mit Informationen vorsichtig umgehen. Im Oktober 2022 publizierten ukrainische Kommentatoren etwa das Bild einer Schüssel mit Goldzähnen, die angeblich aus einer russischen Folterkammer in der Nähe von Charkiw stammen würden. Tatsächlich hatte das Bild seinen Ursprung in einer (von russischen Soldaten geplünderten) Zahnarztpraxis und stammte nicht von Folteropfern. Zwar ist pure „Objektivität“ kaum möglich, dennoch muss man bei der Informationsbeschaffung sorgfältig vorgehen.
Wie geht es weiter? Der Wandel von Twitter und die Zukunft des „digitalen Marktplatzes“
Als Social Media Plattform nutze ich in der Regel Twitter. Zwar konnte dieses das Selbstbild vom „digitalen Marktplatz für Informationen“ noch nie einhalten, doch seit der Übernahme durch den rechts-libertären Milliardär Elon Musk verändert sich die Plattform zum Schlechten. Die Abschaffung eines nachvollziehbaren Verifizierungssystems vergrößert die Gefahr von Bots, Trollen und Desinformationen. Kontrollmechanismen, die Zusammenarbeit mit Journalist:innen und demokratischen Institutionen werden zunehmend abgebaut. Elon Musk nutzt Twitter (oder „X“) inzwischen zur Umsetzung seiner eigenen politischen Ziele: Sein Anspruch auf „totale Meinungsfreiheit“ gilt nur für sich selbst und diejenigen, die ihn unterstützen – somit geht es in Wahrheit um totale Diskurshoheit. Da aktuell keine funktionsfähige und reichweitenstarke Alternative zu Twitter existiert, ist die Zukunft der digitalen Kommunikation und des wissenschaftlichen Austauschs zumindest auf dieser Plattform gefährdet.
Text: Matthäus Wehowski
Du interessierst dich für das Thema Desinformation? Hier geht es zum Interview mit unserer Referentin Friederike Raiser „Deine Medien sind doch auch nur Fake News” – Wie kann man mit Desinformation umgehen?”.
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