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Desinformation, Verschwörung, Propaganda: Was tun, wenn Familienangehörige sich radikalisieren?

Wenn Angehörige oder Freund:innen beginnen, Verschwörungsideologien zu verbreiten oder Desinformation Glauben zu schenken, kann das für die persönlichen Beziehungen sehr belastend sein. Etwa im Zusammenhang mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist dies auch für einige in der russlanddeutschen Community zum Problem geworden, wenn einzelne Familienmitglieder z.B. aufgrund der russischen Desinformationskampagne den Krieg leugnen oder anderweitige Elemente der putin‘schen Propaganda vertreten. Was also tun, wenn sich die Lebenswelten immer weiter voneinander entfernen und ein Gespräch immer schwieriger wird? Eine Person, die sich damit auskennt, ist die Journalistin Dana Buchzik. Sie ist Autorin des Buchs „Warum wir Familie und Freunde an radikale Ideologien verlieren – und wie wir sie zurückholen können“. Wir haben sie interviewt und ihr eure Fragen gestellt.
© Pierre Horn_ Schall und Schnabel Berlin

Wenn Menschen aus dem eigenen Umfeld sich radikalisieren, passiert das ja meist nicht plötzlich, sondern nach und nach. Wie beginnt so etwas?

Die ersten Anzeichen einer Radikalisierung ähneln oft der Anfangsphase einer neuen Beziehung: Die Person ist deutlich fröhlicher und gelöster als sonst, bisherige Alltagssorgen oder Probleme werden kaum oder gar nicht mehr thematisiert. Das Umfeld freut sich dann natürlich erst mal mit und will die gute Stimmung nicht durch kritische Nachfragen gefährden, wenn die Person ihren Alltag plötzlich anders gestaltet als sonst: Vielleicht schließt sich der Teenagersohn, der vorher ständig Party gemacht hat, stundenlang in seinem Zimmer ein und zitiert permanent aus dem Koran oder der Bibel. Vielleicht gibt die Partnerin ihren geliebten Beruf auf, weil sie sich einer Sekte verpflichtet fühlt. Sobald jemand seinen Alltag stark verändert und dabei einen ausgeprägten Missionierungsdrang zeigt, also immer wieder über eine Person oder eine Gruppe spricht, die angeblich sein oder ihr Leben revolutioniert hat, sollten wir wachsam werden.

Ob persönliche oder berufliche Konflikte oder auch weltpolitische Probleme: Alles wird nur noch durch die Brille der Ideologie betrachtet und als Ausdruck eines Kampfes zwischen Erwachten und Ungläubigen wahrgenommen.

Warum glauben Menschen Desinformationskampagnen, tendenziösen oder falschen Informationsquellen oder Verschwörungserzählungen? Welche psychologischen Mechanismen laufen da ab?

Wer sich radikalisiert, will sich sein Leben als Heldengeschichte erzählen. Egal, ob wir über Verschwörungsglauben sprechen oder über christlichen Fundamentalismus, über Rechtsextremismus oder Islamismus, über Impfgegnerschaft oder Sekten – dieses Prinzip ist letztlich gleich und auch der innere Prozess einer Radikalisierung. Der Religions- und Politikwissenschaftler Daniel Köhler spricht von «Ent-Pluralisierung»: Die Vielfalt eigener Werte und Interessen wird von einer allumfassenden Ideologie ersetzt. Ob persönliche oder berufliche Konflikte oder auch weltpolitische Probleme: Alles wird nur noch durch die Brille der Ideologie betrachtet und als Ausdruck eines Kampfes zwischen Erwachten und Ungläubigen wahrgenommen.[1]

Trotzdem sieht die Heldengeschichte je nach Persönlichkeit anders aus. Wer zum Beispiel sehr idealistisch ist, wird vermutlich radikalen Missionaren glauben, die behaupten, die Welt zu einem besseren, friedlicheren Ort zu machen. Wer nach Macht giert, sucht sich eine gewaltverherrlichende Ideologie wie etwa Islamismus oder Rechtsextremismus. Und wer vor allem nach Zugehörigkeit sucht, läuft im Zweifelsfall überall mit, wo ihm:ihr Anerkennung angeboten wird. Deswegen hat das direkte Umfeld die besten Chancen, eine Radikalisierung nicht nur frühzeitig zu erkennen, sondern ihr auch etwas entgegenzusetzen: Enge Freund:innen und Angehörige verstehen am ehesten, welche Funktion die Radikalisierung im Alltag erfüllt, und mit diesem Wissen lassen sich Alternativangebote entwickeln.

Psychologische Studien zeigen, dass Gegenrede bei den meisten Menschen kein Umdenken auslöst, sondern sie in die Defensive treibt: Sie fühlen sich angegriffen und klammern sich deswegen nur noch mehr an ihrer Meinung fest.

Aktuell erleben wir, dass es in Familien teilweise zu Spannungen kommt, wenn es um den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine geht. Wie kann man damit umgehen, wenn im Familienchat Desinformation/fragwürdige Inhalte verbreitet werden?

Diskussionen per Chat führen unausweichlich zur Eskalation. Im ersten Schritt sollten wir also eine klare Grenze setzen: »Ich möchte über dieses Thema nicht per Chat diskutieren. Lass uns bald telefonieren.« Es ist wichtig, dann auch wirklich konsequent zu bleiben und im Chat nur noch auf Beiträge zu anderen Themen zu reagieren. Auch im direkten Kontakt geht es darum, Grenzen zu setzen und zu achten – und zwar auf beiden Seiten. Wir fühlen uns von fragwürdigen Inhalten provoziert und unter Druck gesetzt. Unserem Gegenüber geht es aber genauso, wenn wir ihn mit Gegenrede und Faktenchecks überfluten, und auch mit diesem Gefühl muss ein Umgang gefunden werden.

Psychologische Studien zeigen seit den 1950er Jahren, dass Gegenrede bei den meisten Menschen kein Umdenken auslöst, sondern sie in die Defensive treibt: Sie fühlen sich angegriffen und klammern sich deswegen nur noch mehr an ihrer Meinung fest. Dieses Phänomen heißt »belief perseverance«[2]: das Beharren auf Überzeugungen. Es ist bei radikalen Menschen stärker ausgeprägt, weil radikale Ideologien die eigene Persönlichkeit zurückdrängen. Je weiter die «Ent-Pluralisierung» voranschreitet, desto weniger bleibt der radikalen Person im Leben: Alles kreist nur noch um ihren Glauben. Wird dieser Glaube hinterfragt, fühlt sich das wie ein im wahrsten Sinne lebensbedrohlicher Angriff an, und entsprechend heftig wird die Reaktion ausfallen.

Häufig verlieren Diskussionen dann jeden sachlichen Bezug und werden nur noch emotional oder aggressiv geführt. Kannst du eine Empfehlung geben, was dann noch hilft?

Eine Person im Radikalisierungsprozess wird schnell aggressiv, weil sie dauerhaft unter Druck steht. Eine Heldengeschichte kann ja nur funktionieren, wenn man tatsächlich Heldentaten begeht. Wenn sich das direkte Umfeld aber einfach nicht von der vermeintlich einzigen Wahrheit überzeugen lassen will, fühlt sich das an wie ein existenzielles Versagen, und das löst wiederum Angst und Wut aus. Sobald wir eine Pause machen vom Diskutieren, sobald wir unserem Gegenüber signalisieren: ich will dir deinen Glauben nicht wegnehmen, schaffen wir einen Raum, in dem beide Parteien erst mal durchatmen und aus ihrer selbst auferlegten Rolle der Aufklärenden heraustreten können.

Aus dieser inneren Ruhe heraus können wir neue Schritte wagen und uns Unterstützung suchen, zum Beispiel bei einer Beratungsstelle.[3] Sobald wir verstehen, wie Radikalisierung funktioniert und dass es dabei nicht wirklich um die jeweilige Ideologie geht, sondern nur um das Heldennarrativ, können wir auch damit aufhören, unsere Zeit mit Faktenbingo zu verschwenden. Stattdessen können wir, etwa mithilfe der Beratungsstelle oder auch gemeinsam mit Angehörigen und Freund:innen, überlegen, welche Unterstützung unser Gegenüber braucht, um das eigene Leben auch ohne radikale Ideologie als sinnvoll wahrzunehmen. Und wir können – und müssen – üben, unsere eigenen Bedürfnisse dabei im Blick zu behalten und im Alltag konsequent Grenzen zu setzen.

Verständnis ist ein wichtiger Punkt. Denn natürlich müssen und sollten wir kein Verständnis für menschenfeindliche Haltungen zeigen. [...] Sobald wir verstehen, welche Funktion die Radikalisierung für unser Gegenüber erfüllt, können wir uns innerlich besser abgrenzen und müssen nicht mehr auf jede provokante Äußerung einsteigen. Stattdessen können wir den Menschen ansprechen, den wir kennen und lieben, können ihn daran erinnern, wer er vor der Radikalisierung war – und wieder sein kann

Wie ist da eine Kommunikation auf Augenhöhe und mit einem gegenseitigen Verständnis wieder möglich?

Verständnis ist ein wichtiger Punkt. Denn natürlich müssen und sollten wir kein Verständnis für menschenfeindliche Haltungen zeigen. Die Psychologie unterscheidet zwischen Spiel- und Motivebene: Auf der oberflächlichen »Spielebene« finden wir die radikalen Parolen. Die Beweggründe für das radikale Verhalten aber liegen tiefer, auf der »Motivebene«. Sobald wir verstehen, welche Funktion die Radikalisierung für unser Gegenüber erfüllt, können wir uns innerlich besser abgrenzen und müssen nicht mehr auf jede provokante Äußerung einsteigen. Stattdessen können wir den Menschen ansprechen, den wir kennen und lieben, können ihn daran erinnern, wer er vor der Radikalisierung war – und wieder sein kann. Ich empfehle gern, gemeinsam einen Raum für politische Überzeugungen zu schaffen. Zum Beispiel könnten wir eine Zeit in der Woche festlegen, in der mal die eine, mal der andere über die eigenen Überzeugungen spricht und dabei auch nicht unterbrochen wird, solange keine persönlichen oder juristischen Grenzen verletzt werden. Außerhalb dieser Zeitspanne wird aber ausschließlich über andere Themen geredet und die Beziehung, beispielsweise mit gemeinsamen Unternehmungen, bewusst gepflegt.

 

Wann sollte man spätestens Abstand zu Menschen nehmen, die sich radikalisiert haben?

In meiner Kommunikationsberatung höre ich oft: »Ich habe alles versucht und jetzt kann ich nicht mehr.« Die meisten haben aber nur eine einzige Strategie, nämlich Gegenrede, immer und immer wieder angewendet, obwohl sie ganz offensichtlich nicht funktioniert. Natürlich stauen sich dann mit der Zeit Frustration und Erschöpfung auf. Aber eigentlich möchten wir ja geliebte Menschen nicht verlieren. Das Nachdenken über einen Kontaktabbruch zeigt uns also vor allem, dass wir zu oft unsere Grenzen ignoriert haben und emotional überlastet sind. Mit dieser Überlastung müssen wir einen Umgang finden; Selbstschutz hat immer Priorität. In vielen und wie ich glaube, sogar in den meisten Fällen, können wir aber mit guter Kommunikation schnell deeskalieren und gemeinsam neue Wege für die jeweilige Beziehung ausloten, statt sie abbrechen zu müssen.

Satire über Radikalisierte sieht meistens so aus, dass sich über mangelnde Intelligenz lustig gemacht wird, z.B. in der Heute Show. Wie siehst du das?

Satire, die einfach nur Vorurteile reproduziert, trägt dazu bei, dass Radikalisierung zum Flächenbrand wird. Sie lädt dazu ein, zu glauben, dass Radikalisierung immer nur »die anderen« träfe, die vermeintlich »Dummen und Abgehängten«, und dass man selbst leider, leider gar nichts tun könnte. Das ist nicht nur arrogant, sondern auch sachlich falsch.

Tatsächlich sind die allermeisten Radikalen nicht weniger klug, weniger gebildet oder psychisch kränker als der gesellschaftliche Durchschnitt. Die Wahrscheinlichkeit, sich zu radikalisieren, steigt sogar mit den Privilegien. Wenn man nämlich daran gewöhnt ist, von Politik und Gesellschaft immer mitgedacht zu werden, lässt man sich im Zweifelsfall eben auch gern davon überzeugen, dass man besonders wichtig und heldenhaft wäre und die Bedürfnisse anderer irrelevant.[4]

Eine Followerin auf Instagram hat gefragt, wie sie es schaffen kann, nicht aufzugeben, wenn sie gefühlt die einzige Person in ihrem Umfeld ist, die politisch anders denkt. Welchen Rat würdest du ihr geben?

Sich auf verlorenem Posten zu fühlen, bedeutet eine große emotionale Belastung. Hier ist es wichtig, sich zeitnah Unterstützung zu suchen, um aus den Grübelkreisläufen auszusteigen. In den meisten Fällen sind wir ja nicht wirklich allein mit unseren Werten und Zielen, sondern haben in unserem Freundeskreis und/oder in unserem Online-Umfeld durchaus Menschen, die uns verstehen und uns eine Stütze sein können. Je öfter wir es schaffen, soziale Wärme in unseren Alltag zu holen, desto mehr Kraft haben wir auch, ungesunde Verhaltensmuster im Umgang mit radikalisierten Menschen auszuhebeln und unsere Kommunikation bewusst auf neue Füße zu stellen.

[1] Daniel Koehler: Understanding Deradicalization. Methods, Tools and Programs for Countering Violent Extremism, London 2016, S. 73–79.

[2] Craig A. Anderson, Kathryn L. Kellam (1992): Belief Perseverance, Biased Assimilation, and Covariation Detection: The Effects of Hypothetical Social Theories and New Data, in: Personality and Social Psychology Bulletin 18(5), https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/0146167292185005.

[3] Weil die Psychologie von Radikalisierungsprozessen letztlich gleich ist, können wir uns auch an Beratungsstellen mit vermeintlich anderen thematischen Schwerpunkten wenden. Übersichten von bundesweiten Beratungsstellen finden sich unter anderem bei der bpb und bei der Erzdiözese München/ Freising.

[4] Willem Koomen/Joop Van Der Pligt: The Psychology of Radicalization and Terrorism, London 2016, S. 30; Arie W. Kruglanski et al (2017).: To the fringe and back. Violent extremism and the psychology of deviance, in: American Psychologist, 72(3).

 

Foto: Pierre Horn / Schall und Schnabel Berlin