Auch ich habe als Angehörige der deutschen Minderheit in Polen und als Journalistin, die für verschiedene Organisationen der Minderheit tätig war, diese Herausforderungen hautnah erlebt. In einer deutsch geprägten Familie aufgewachsen, habe ich schon früh ein besonderes Interesse an der deutschen Sprache und Kultur entwickelt. Meine Großmutter war Mitbegründerin der ersten Organisation der deutschen Minderheit in Polen, sodass ich die Geschichte dieser Gemeinschaft aus erster Hand kenne. Durch meine siebenjährige Arbeit für verschiedene Organisationen der deutschen Minderheit in Polen und Deutschland habe ich tiefgehende Einblicke in die Strukturen und Entwicklungen dieser Gemeinschaft gewonnen. Aus dieser persönlichen und beruflichen Perspektive reflektiere ich, wie sich die Strukturen verändern und welche Herausforderungen wir in Zukunft angehen müssen.
Was genau ist eine Minderheit?
Eine nationale Minderheit wird gemäß der Charta der autochthonen, nationalen Minderheiten/Volksgruppen der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEN) [1] als eine Gruppe der Bevölkerung definiert, die sich durch eine eigene Sprache, Kultur, Geschichte und Identität von der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet und den Willen zur Bewahrung dieser Identität besitzt. Diese Gruppen sind traditionell, oft seit Jahrhunderten, in einem Land ansässig und in angestammten Siedlungsgebieten verortet. Im Gegensatz zu Zuwanderergruppen leben sie seit Generationen beständig in diesen Gebieten, haben die Staatsbürgerschaft des jeweiligen Landes und heben sich z.B. durch sprachliche oder kulturelle Merkmale von der Mehrheitsbevölkerung ab.
Deutsche Minderheiten leben in 27 Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas sowie Zentralasiens und umfassen schätzungsweise rund eine Million Menschen, die in ihren Ländern als nationale Minderheit gelten. Laut dem Bundesministerium des Innern und für Heimat [2] verteilen sich etwa 412.000 Angehörige dieser Minderheiten auf Mittel- und Osteuropa, während ca. 684.000 in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion leben. Diese Zahlen beruhen auf Volkszählungen und Vereinsmitgliedschaften, sind jedoch schwer exakt zu bestimmen. Die Entstehung dieser Minderheiten geht auf die deutsche Ostkolonisation, gezielte Auswanderungen sowie Grenzverschiebungen und Vertreibungen nach den Weltkriegen zurück.
„Diese Minderheiten wurden nach dem Zweiten Weltkrieg entrechtet, vertrieben und zur Zwangsarbeit gezwungen, was bei vielen Armut im Alter verursachte, da keine Rentenbeiträge geleistet wurden.“
Die Bundesregierung unterstützt deutsche Minderheiten, vor allem in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, um die schweren Kriegsfolgen zu lindern. Diese Minderheiten wurden nach dem Zweiten Weltkrieg entrechtet, vertrieben und zur Zwangsarbeit gezwungen, was bei vielen Armut im Alter verursachte, da keine Rentenbeiträge geleistet wurden. Auch das Verbot, die deutsche Sprache zu pflegen, führte zu einem Verlust kultureller Identität.
Zur Abmilderung dieser Folgen fördert die Bundesregierung Sprachprojekte, die Erhaltung der ethnokulturellen Identität und die Jugendarbeit. Besonderer Fokus liegt auf der Stärkung von Selbstorganisationen, um die Minderheiten zu befähigen, ihre Gemeinschaften aktiv zu gestalten. Insbesondere junge Mitglieder sollen durch Bildungs- und Kulturprojekte eingebunden werden und so die Kontinuität der Gemeinschaft zu sichern. Diese Unterstützung ermöglicht es den deutschen Minderheiten, als Mittler zwischen Deutschland und ihren Herkunftsstaaten zu fungieren. Durch diese Maßnahmen hat sich die Lage der deutschen Minderheiten seit 1989 deutlich verbessert, unterstützt durch bilaterale Verträge und Abkommen zum Minderheitenschutz.
Zentral für die deutschen Minderheiten ist die 1991 auf Initiative des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat in Budapest gegründete Arbeitsgemeinschaft deutscher Minderheiten (AGDM), die alle Organisationen vereint, die in der Föderalistische Union Europäischer Nationalitäten als Verbände deutscher Minderheiten aktiv sind. Diese Arbeitsgemeinschaft ist ein informelles Gremium, das den Austausch und die Zusammenarbeit der Verbände fördert. Das jährliche Treffen der AGDM ermöglicht es den Teilnehmenden, Anliegen zu formulieren, politische Kontakte zu pflegen und sich durch Besuche bei ansässigen Minderheiten oder thematische Schwerpunkte neue Impulse zu holen, zudem spielt die Nachwuchsförderung eine wichtige Rolle.
Strukturen und Engagement in der Praxis
Die deutschen Minderheiten in Europa sind seit jeher engagiert, ihre kulturelle Identität zu bewahren und zu pflegen. Ihre Aktivitäten und Projekte sind vielfältig und reichen von lokalen bis hin zu internationalen Initiativen. Die Struktur der deutschen Minderheiten umfasst verschiedene Organisationen und Vereine (oft NGOs), die sich auf unterschiedlichen Ebenen verteilen: von Dachorganisationen auf nationaler Ebene bis hin zu lokalen Gruppen.
Auf nationaler Ebene gibt es Dachorganisationen, sie koordinieren und unterstützen die Aktivitäten der lokalen Verbände und Gruppen. In den Ländern sind auch regionale Vereinigungen aktiv, die sich um spezifische kulturelle und soziale Belange kümmern.
Ungarn
Die Ungarndeutschen betreiben verschiedene Kultur- und Jugendgruppen, die regelmäßig Projekte zur Pflege ihrer Traditionen initiieren. Eines ihrer Projekte ist die Wanderschlüssel-Kampagne, die zum 300-jährigen Jubiläum der deutschen Ansiedlung in Ungarn ins Leben gerufen wurde. Hierbei reist eine symbolische Truhe durch verschiedene Orte in Ungarn und sammelt traditionelle Gegenstände und Fotos. Diese werden im Jakob Bleyer Heimatmuseum ausgestellt, um das historische Erbe der deutschsprachigen Gemeinschaft zu bewahren und das Zugehörigkeitsgefühl zu stärken.
Kasachstan
In Kasachstan fand vom 20. bis 26. Mai 2024 das erste Internationale Deutschsprachige Theaterfestival „Spielbergata 2024“ statt. Organisiert von der Gesellschaftlichen Stiftung Vereinigung der Deutschen Kasachstans „Wiedergeburt“ und dem Verband der Deutschen Jugend Kasachstans, bot das Festival deutschen Jugendlichen eine Plattform, um sich durch Theaterarbeit mit Themen wie Geschichte, Herkunftskultur und Identität auseinanderzusetzen. Acht Amateurtheatergruppen aus Kasachstan, Polen und Usbekistan nahmen am Wettbewerbsprogramm teil und nutzten die Gelegenheit für Diskussionen, Seminare und Workshops.
Polen
Das Schlesien-Seminar des Hauses der deutsch-polnische Zusammenarbeit ist eine traditionsreiche Veranstaltung, die sich seit 1995 mit den kulturellen und historischen Facetten der Region Schlesien befasst und in den letzten Jahren zunehmend populärwissenschaftlich gestaltet wurde. 2024 drehte sich das Seminar um das Thema „Schlesisches Mosaik. Die Rolle der Multikulturalität bei der Gestaltung der Region“ mit Vorträgen und Diskussionen zur multikulturellen Prägung Schlesiens und deren Zukunft. Begleitend gab es kulturelle Programmpunkte wie Stadtspaziergänge und Theateraufführungen, die die ethnische und kulturelle Vielfalt der Region hervorhoben.
Die Projekte der deutschen Minderheiten zeigen, wie kulturelle Traditionen mit modernen Ansätzen kombiniert werden, um ein reichhaltiges und dynamisches kulturelles Leben zu fördern. Sie tragen nicht nur zur Bewahrung von Traditionen bei, sondern schaffen auch Raum für kreative Ausdrucksformen und den interkulturellen Austausch.
Eigene Reflexionen
Das Leben als Angehöriger einer Minderheit ist nicht immer einfach und erfordert viel Durchhaltevermögen. Wer, wie ich, in einer stark deutsch geprägten Familie in Polen aufwächst, fühlt sich oft anders als die polnischen Mitschüler:innen. Das Interesse an der deutschen Sprache, an deutschen Medien oder deutscher Musik war bei mir deutlich ausgeprägt. Einige Jahre war ich sehr aktiv im Jugendverband der deutschen Minderheit. Diese Zeit bot mir die Gelegenheit, Menschen kennenzulernen, die ähnliche Interessen, Hobbys und Erfahrungen teilten.
„Doch die Zeiten ändern sich, ebenso wie Menschen und ihre Prioritäten. Die Strukturen der Minderheit altern, und die klassische Vereinsarbeit spricht die junge Generation kaum noch an. Ob die angebotenen Jugendprojekte tatsächlich etwas bewirken, wird sich erst in der Zukunft zeigen.“
Andrea Polanski ist als Teil der deutschen Minderheit in Polen aufgewachsen. Bis heute ist das ein bedeutender Teil ihrer Identität. Sie arbeitet als Journalistin, unter anderem für die Zeitung der deutschen Minderheit Wochenblatt.pl. Ihre Themenschwerpunkte liegen in den deutsch-polnischen Beziehungen, der Kultur, Porträts aus dem deutsch-polnischen Raum und der deutschen Minderheit in Polen sowie der Minderheitenpolitik. Durch ihre bisherige Arbeit für Institutionen der deutschen Minderheit in Polen und Deutschland kennt sie dieses Thema nicht nur journalistisch, sondern auch aus der Perspektive der Öffentlichkeitsarbeit und des Projektmanagements.
Quellenhinweise:
[1] Charta der autochthonen, nationalen Minderheiten / Volksgruppen in Europa. (2006)
[2] Deutsche Minderheiten in Europa und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion.
Fotocredits Beitragsbild: Jacek Matuszek
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