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Die Entstehungsgeschichte der Intersektionalität

Die Geschichte der Intersektionalität wurzelt im schwarzen Feminismus und der Critical Race Theory und betont die Notwendigkeit, Diskriminierungsstrukturen aufzudecken. Dieser Artikel bietet eine kompakte Einführung in die Entstehungsgeschichte und die Grundprinzipien der Intersektionalität, die die Machtstrukturen in unserer Gesellschaft beleuchtet.
Nilima_Zaman

Der Begriff Intersektionalität hat in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen und sich als ein bedeutendes Konzept im Kampf gegen Diskriminierung entwickelt. Im Gegensatz zum Konzept der Diversität legt die Intersektionalität den Schwerpunkt auf die Machtverteilung in einer Gesellschaft. Historisch gesehen haben sich Ausgrenzungsmerkmale und -strukturen infolge sozialpolitischer Ereignisse entwickelt und sind heute in unserer gesellschaftlichen Ordnung verankert. Beispiele für solche Ausgrenzungsstrukturen sind u.a. Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit und weitere Diskriminierungsformen. Diese Ausgrenzungsstrukturen haben sich in verschiedenen Ebenen unserer Gesellschaft manifestiert und werden (un)bewusst und ungeachtet ihrer Konsequenzen reproduziert. Wichtig zu verstehen ist, dass diese normalisierten Ausgrenzungsstrukturen nach den Vorstellungen einer Dominanzgesellschaft historisch definiert und geschaffen wurden.

Heutzutage gehört es zur Verantwortung der Normgesellschaft[1], diese bestehenden Diskriminierungsstrukturen zu analysieren und entgegenzuwirken. Dabei bietet das Konzept der Intersektionalität einen wertvollen Ansatz, diese Notwendigkeit näher zu durchdringen. Um die Kerngedanken der Intersektionalität näher begreifen zu können, präsentiert nun dieser Artikel eine prägnante und einführende Abhandlung zur Entstehungsgeschichte der Intersektionalität.

Bereits 1851 eine bedeutende Frage: „Ain´t I a woman?”

Das erste historische Ereignis, das in der Intersektionalitätsforschung von großer Bedeutung ist, stellt die Darstellung der Lebensrealität von Sojourner Truth dar. Sojourner Truth war eine afroamerikanische Abolitionistin und Frauenrechtlerin des 19. Jahrhunderts, die 1779 selbst noch in die US-amerikanische Versklavung hineingeboren war. 

Bekannt ist Truth für ihre inspirierende Rede auf der Women’s Rights Convention (deutsch: Frauenrechtskonvention) von 1851 in Akron, Ohio, wo sie eine bedeutende Frage stellte: “Ain’t I a woman?” (deutsch: „Bin ich etwa keine Frau?”). Mit ihren Worten und ihrer Frage verdeutlichte Truth einerseits die Forderung nach Gleichstellung und der Ablehnung der damals vorherrschenden rassistischen und sexistischen Vorurteile. Andererseits verdeutlichte sie die Ungleichheit, denen schwarze[2] Frauen gegenüberstanden. 

Ihre Frage machte nur allzu deutlich, dass die Vorstellung der Weiblichkeit, die zu jener Zeit vorherrschte, sich nach den Realitäten von weißen[3] Frauen orientierte und dabei die Realitäten schwarzer Frauen außer Acht ließ. Mit anderen Worten: Die weißen Mittelklassefrauen hatten die Bewegung schwarzer Frauen nicht mitberücksichtigt, denn die Bedürfnisse und Forderungen der betroffenen Frauen unterschieden sich nach ihren Lebensrealitäten. So berichtete sie über eine Realität, dass schwarze Frauen oft nicht als “typische” Frauen betrachtet wurden und nicht dieselben Rechte und Anerkennung erhielten wie weiße Frauen.  

Mit anderen Worten: Die weißen Mittelklassefrauen hatten die Bewegung schwarzer Frauen nicht mitberücksichtigt, denn die Bedürfnisse und Forderungen der betroffenen Frauen unterschieden sich nach ihren Lebensrealitäten.

Der historische Beitrag von Truth verdeutlicht, dass diese Forderungen vor bereits 170 Jahren benannt wurden. Truth leistete somit einen wichtigen Beitrag zur feministischen Bewegung und zum Kampf für die Rechte der schwarzen Frau im 19. Jahrhundert. Sojourner Truths Engagement für Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit hatte einen dauerhaften Einfluss auf die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung und der Frauenrechtsbewegungen in den Vereinigten Staaten hinterlassen. Und auch heute noch dienen ihre Worte als Inspirationsquelle für eine globale feministische Gerechtigkeit.

Combahee River Collective Statement 1977

Die Gründung des Combahee River Collective wird als eine weitere bedeutende historische Zäsur in der Erforschung der Intersektionalität angesehen.

Im Jahr 1974 formierte sich dieses Kollektiv schwarzer, lesbischer, sozialistischer Feminist:innen und erklärte 1977 in ihrer Stellungnahme, dass Rassismus, Sexismus, Heterosexismus und Klassismus untrennbare Formen der Unterdrückung seien. Diese Unterdrückungsstrukturen sollen verstanden werden als ineinander verwobene Herrschafts- und Unterdrückungssysteme, wie dieses Zitat des Combahee River Collectives verdeutlicht: „the major systems of oppressions are interlocking“ (Combahee River Collective, 2014, S. 271).

Dieses historische, von ihnen verschriftlichte Statement war ein wegweisender Meilenstein in den Diskussionen über die Intersektionalität. Der Ausgangspunkt dieses Statements basierte auf den Erfahrungen schwarzer Frauen, deren Perspektiven weder in der damaligen Frauenrechtsbewegung noch in der Bürgerrechtsbewegung angemessen berücksichtigt wurden. Während die damalige Frauenrechtsbewegung hauptsächlich von weißen Frauen der Mittelklasse getragen wurde und die Bürgerrechtsbewegung von schwarzen Männern dominiert war, wurden die Standpunkte und Perspektiven schwarzer lesbischer Frauen systematisch marginalisiert und ausgegrenzt.

Das Hauptziel des Statements war es ein Bewusstsein für den intersektionalen Charakter von Unterdrückung und Diskriminierung zu schärfen. Um eine Gleichberechtigung zu erreichen, benötigt es ein Verständnis über die Verflechtungen von Unterdrückung.

Die Begriffsprägung „Intersektionalität“ 1989

Die schwarze, afroamerikanische Juristin und Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw prägte im Jahr 1989 den Begriff Intersectionality.

Das Konzept entstand aus ihrer Analyse abgelehnter juristischer Fälle, in denen sie kritisierte, dass die US-amerikanischen Antidiskriminierungsgesetze einer eindimensionalen Sichtweise und Logik folgen. Diese abgelehnten Gerichtsurteile belegen, dass die Anklagen schwarzer Frauen gegen Unternehmen abgewiesen und stattdessen zugunsten der Unternehmer*innen entschieden wurden. Gerichte argumentierten, dass keine rassistische oder sexistische Diskriminierung vorliegen könne, da diese Unternehmen sowohl schwarze Männer als auch weiße Frauen beschäftigten. Die Logik der betreffenden Gerichtsurteile legt offen, dass keine Diskriminierung gegenüber schwarzen Frauen vorliegen könne. Dass diese schwarzen Frauen aufgrund der sich überschneidenden Diskriminierungsstrukturen von Rassismus und Sexismus benachteiligt wurden, wurde im damaligen Verständnis von Antidiskriminierung nicht berücksichtigt.

Dass diese schwarzen Frauen aufgrund der sich überschneidenden Diskriminierungsstrukturen von Rassismus und Sexismus benachteiligt wurden, wurde im damaligen Verständnis von Antidiskriminierung nicht berücksichtigt.

Diese Urteile verdeutlichen, dass der komplexe, sich überschneidende Charakter von Diskriminierung nicht angemessen im Verständnis der Antidiskriminierung mitberücksichtigt wird. Crenshaw kritisierte, dass die Rechte schwarzer Frauen nur geschützt werden, wenn ihre Erfahrungen mit denen weißer Frauen oder schwarzer Männer übereinstimmen.

Um diese komplexe Erkenntnis veranschaulichend darzustellen, bedient sich Crenshaw häufig der Metapher einer Straßenkreuzung, an der unterschiedliche Diskriminierungsstrukturen überschneidend dargelegt werden. Damit verdeutlicht sie, wie verschiedene Formen der Diskriminierung miteinander verflochten sind und sich verstärken können.

Fazit

Die Geschichte der Intersektionalität stellt dar, dass die Erklärungen und Theorien ihre Wurzeln im angloamerikanischen schwarzen Feminismus und der Critical Race Theory haben. Diese Entstehungsgeschichte verdeutlicht, dass der Grundgedanke darin bestand, Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse aufzudecken. Diskriminierungsstrukturen kommen vor allen denjenigen zugute, die aufgrund von Normzugehörigkeit bevorzugt werden und dadurch Zugänge in ein gesellschaftliches Leben erhalten, das normabweichenden Personen verwehrt bleibt. Die Auseinandersetzung mit dem Konzept der Intersektionalität betont, dass Diskriminierung nicht allein aufgrund einer einzelnen Ausgrenzungsstruktur erfolgt, sondern dass sie durch die Einwirkung zusätzlicher Diskriminierungskategorien ausgelöst werden kann.

Heute hat sich die Intersektionalität zu einem bedeutenden Ansatz in den Sozialwissenschaften entwickelt. Sie trägt dazu bei, die Vielschichtigkeit sozialer Probleme und komplexe Lebensrealitäten besser zu verstehen und ermöglicht es, angemessene Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen zu entwickeln. Daher handelt es sich um ein theoretisches Konzept, das nicht nur in sozialen Anwendungen, sondern auch in der Wissenschaft Praxis finden sollte. Insgesamt verdeutlicht die Geschichte der Intersektionalität, dass die Entwicklung des Konzepts von großer Bedeutung für soziale Gerechtigkeiten war. Um eine soziale Gerechtigkeit zukünftig zu gewährleisten, sind intersektionale Perspektiven notwendig und müssen folglich gefördert werden.

[1] Der Begriff „Normgesellschaft“ nimmt eine kritische Perspektive an und wird in Diskussionen über Ungleichheit, wie Gender, Sexualität und Race, verwendet. Er basiert auf der Vorstellung, dass eine Seite (unbewusst) in Übereinstimmung mit gesellschaftlichen Normen und Identitäten aufwächst und sich innerhalb dieser normativen Strukturen bewegen kann, aufgrund dieser normativen Merkmale wie z.B. Weißsein, Männlichkeit und Heterosexualität. Auf der anderen Seite weichen bestimmte Gruppen von Menschen von diesen “normalen” Mustern ab und werden infolgedessen ausgegrenzt und diskriminiert. Mit der Verwendung des Begriffs „Normgesellschaft“ soll die Position und Hierarchie in einer Gesellschaft reflektiert werden.

[2] In diesem Artikel wird das soziale Konstrukt “schwarz” kleingeschrieben. Die Autorin lehnt die Großschreibung von rassischen Kategorien wie “schwarz” ab, da diese ursprünglich erfunden wurden, um die Idee einer weißen Vorherrschaft aufrechtzuerhalten. Durch diese Entscheidung soll die Verfestigung dieser konstruierten Kategorie zu einer Destabilisierung des Begriffs beitragen. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass andere Artikel die Großschreibung von “Schwarz” bevorzugen.

[3] Das Informationszentrum- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit unterstreicht die Verwendung von Kleinschreibung und Kursivschrift für das Wort “weiß“. Dies dient dazu, den ideologischen Charakter zu kennzeichnen und auf die Unsichtbarmachung aufgrund des normativen Inhalts hinzuweisen (siehe Glossar IDA e.V.).

Über die Autorin

Nilima Zaman ist Literatur-, Gender-, Kultur- und Geschichtswissenschaftlerin.

2020 gründete sie einen geschützten Raum (engl. Safe(r) Space) für feministische Jüdinnen*Juden, schwarze, indigene und Menschen of Color: BiPoC+ Feminismen*.  Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der (post)kolonialen Körperpolitik, Widerstand und Überlebensforschung, intersektionalen Strukturen und migrantischen Lebensentwürfen. 2023 lehrte sie an der Universität Tübingen ein Seminar zum Thema „(Post)koloniales Weißsein“.

Bildrechte: Nilima Zaman

Quellen- und Literaturverzeichnis

Chebout, Lucy (2012). Back to the roots! Intersectionality und die Arbeiten von Kimberlé Crenshaw. URL: www.portal-intersektionalität.de

Detjen, M. (2020, September 8). Diskriminierung: Intersektionalität ist für alle da. ZEIT ONLINE. https://www.zeit.de/kultur/2020-09/diskriminierung-intersektionalitaet-privileg-ungleichheit-identitaet-gesellschaft, zuletzt aufgerufen: 01.11.2023

Gilbert, O., Titus, F. W. & Susan B. Anthony Collection (1878). Narrative of Sojourner Truth; a

bondswoman of olden time, emancipated by the New York Legislature in the early part of the present century; with a history of her labors and correspondence drawn from her “Book of life.”. Battle Creek, Mich., Published for the Author. [Pdf] Retrieved from the Library of Congress, https://www.loc.gov/item/29025244/.

IDA e.V. (n.d.). Glossar. IDA Informations- und Dokumentatstionszentrum für Antirassismusarbeit e.V. https://www.idaev.de/recherchetools/glossar

Intersektionalität und ihre Bedeutung. Friedrich Ebert Stiftung. (2021, April 20). URL: https://www.fes.de/themenportal-die-welt-gerecht-gestalten/artikel-in-die-welt-gerecht-gestalten/intersektionalitaet-und-ihre-bedeutung

Kurz, Eliane (2022). Intersektionalität in feministischer Praxis: Differenzkonzepte und ihre Umsetzung in feministischen Gruppen. transcript Verlag.

Logeswaran, Araththy (2022). Theoretische Grundlagen. Schützende Bewältigung. Eine Grounded Theory Zu Diskriminierungserfahrungen von Fachkräften in Der Sozialen Arbeit, 33–80. URL: https://doi.org/10.1007/978-3-658-37392-4_3

Michals, Debra (Ed.) (2015). Sojourner Truth. National Women`s History Museum. https://www.womenshistory.org/education-resources/biographies/sojourner-truth

Podell, Leslie (n.d.). The Sojourner Truth Project. Sojourner Truth Project. https://www.thesojournertruthproject.com/, zuletzt aufgerufen: 01.11.2023.

The Combahee River Collective (2014). A Black Feminist Statement. Women’s Studies

Quarterly, 42(3/4), 271–280. http://www.jstor.org/stable/24365010

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