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Mehr als nur Vorurteile

Durch die Polarisierung in der Gesellschaft und die aktuellen Auseinandersetzungen zu verschiedenen Diskriminierungsformen in Deutschland stellt sich immer wieder die Frage, wie diese entstanden sind und wie wir damit umgehen können. Wo liegen die Parallelen und Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen von Rassismus und inwiefern hat diese Komplexität ihre Auswirkungen auf unsere Gesellschaft? Eleonora Han hat Aleksandra Lewicki, politische Soziologin, zu diesen Themen befragt. Aleksandra Lewicki ist „Reader in Sociology“ und wissenschaftliche Direktorin des „Sussex European Institute“ an der University of Sussex. Ihre Forschung beschäftigt sich mit struktureller Ungleichheit in Einwanderungsgesellschaften, insbesondere in Deutschland und Großbritannien. Ein besonderer Fokus liegt hierbei auf institutionellem Rassismus und Diskriminierung.
Foto von Aleksandra Lewicki

Wie konstruiert sich Rassismus deinem Verständnis nach? 

Es gibt unterschiedliche Definitionen von Rassismus. Häufig wird Rassismus als eine „Gesinnung“ oder „Überzeugung“ bestimmter Individuen verstanden – eine Form von „Menschenfeindlichkeit“, die in Vorurteilen und stereotypisierenden Darstellungen Ausdruck findet. In diesem Verständnis gibt es Menschen, die Rassist:innen sind, also diese Einstellungen teilen und gegebenenfalls danach handeln, und Menschen, die das nicht tun. Rassismus – wie auch Antisemitismus – lassen sich diesem Verständnis nach mit recht kostenarmen Interventionen beseitigen.

Natürlich sind stereotypisierende Repräsentationen und Einstellungen wichtige Bestandteile von Rassismus und Antisemitismus, aber sie sind eben nur die Spitze des Eisbergs. Insbesondere die Einteilung in „Rassist:innen“ und „Nichtrassist:innen“ greift dabei oft zu kurz. Auch die Vorstellung, dass der Abbau von Vorurteilen die Gesellschaft von ihnen befreit, basiert auf einem Verständnis, das wichtige Komponenten des Rassismus und Antisemitismus ausblendet: etwa ihre geopolitische Dimension, ihre historischen Kontinuitäten und Diskontinuitäten, sowie ihre strukturelle und institutionelle Verankerung in unseren Regeln und öffentlichen und privaten Einrichtungen. 

In meinem Verständnis findet Rassismus und Antisemitismus Ausdruck in der Rechtfertigung der Dominanz von Menschen, denen bestimmte Merkmale und Eigenschaften zugeschrieben werden, die wiederum Menschen mit anderen Merkmalen und Zugehörigkeiten abgeschrieben werden.

Dabei entsteht der Eindruck, es gäbe biologische und kulturelle Typen, Arten oder Sorten von Menschen, die von unterschiedlicher Wertigkeit sind. So werden etwa Merkmale wie das Aussehen (z.B. Augenfarbe, Hautfarbe, die Gestalt der Nase oder der Wangenknochen) oder religiöse oder kulturelle Praktiken und Kleidungsstile mit einer essentialisierten* Zugehörigkeit assoziiert und kausal mit Eigenschaften wie Intelligenz, Wertehaltung, Zuverlässigkeit, Eignung für Führungspositionen usw. verknüpft. Bei bestimmten Dominanzverhältnissen haben diese Zuschreibungen eine lange Geschichte. Der koloniale Rassismus, der die Vielfalt afrikanischer ethnischer Gruppen in die rassialisierte* Kategorie „Schwarz“ subsumiert hat, lässt sich ähnlich bis zu Anfängen der gewaltsamen europäischen Expansion im späten 15. Jahrhundert zurückverfolgen. Auch bestimmte Ausprägungen des Antisemitismus und des antimuslimischen Rassismus lassen sich zu diesem Zeitpunkt zurückverfolgen – wobei diese oft verschränkten Repertoires der Rassialisierung* unterschiedlichen Zielen dienten.

Im Nationalsozialismus diente etwa die Institutionalisierung des Antisemitismus der Machtkonsolidierung einer Diktatur, deren Ideologie postulierte, sie bekämpfe den „Feind im Inneren“ – damit rechtfertigte diese Rechtseinschränkungen, die im Holocaust kulminierten. Darstellungen von „slawischen Untermenschen“ hingegen dienten der Rechtfertigung der gewaltsamen Expansion des „Dritten Reichs“ und seiner Gewinnung von „Lebensraum“ östlich des deutschen Staatsgebiets sowie der Ausbeutung durch Zwangsarbeit. Beide Formen der Dominanz waren zudem häufig miteinander verschränkt (e.g. in der Invokation der Figur des „Ostjuden”). Diesen rassistischen und antisemitischen Ideologien lagen spezifische geopolitische Erwägungen zugrunde – häufig rechtfertigten sie Formen der Ausbeutung wie die Sklaverei oder Leibeigenschaft, sowie Landnahme, Zwangsarbeit, Eroberung, Dominanzherrschaft und weitere Varianten der Machtausübung bis hin zum Genozid. Rassismus und Antisemitismus enden nicht im ideologischen Vorgang der Stereotypisierung und Differenzerzeugung – sie wirken sich direkt auf die körperliche Versehrtheit oder auf die Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen und Positionen aus.

Wie findet heute eine Auseinandersetzung damit statt?

Die Auseinandersetzung mit diesen historischen Formen des Extraktivismus* erfolgt heute häufig auf der symbolischen Erinnerungsebene im öffentlichen Raum – etwa durch die Namensänderung von Straßen, die Rückgabe von Museumsstücken, oder der Einrichtung von Stolpersteinen. So wichtig öffentliches Erinnern ist – die Auswirkungen historischer Rassismen (zu denen für mich auch der moderne Antisemitismus gehört) auf Verteilungsfragen oder die Auslöschung von Leben bleiben dabei weitgehend ungesühnt. Dabei schreibt sich historische Ungerechtigkeit in unseren Handlungsroutinen aber auch in Startvorteilen fort. Zum einen, weil materielle Güter vererbt werden, zum anderen, weil rassistische Repräsentationen sich wandeln und in modifizierter Form auftreten. Somit ist es wichtig, nicht nur stereotypisierende Darstellungen herauszuarbeiten und zu problematisieren, sondern auch nachzuverfolgen, wie sich diese materiell auswirken. Wichtig ist auch nachzuvollziehen, wie und wo Ungleichbehandlung ins Gesetz eingeschrieben ist oder daraus resultiert, wie sie sich in institutionellen Kulturen auswirkt oder wie sie strukturell verankert ist, und damit handlungsanleitend oder einschränkend wirkt. Selbst wenn wir diese historischen Kontexte hinreichend aufgearbeitet hätten, fänden wir weiterhin strukturelle oder institutionelle Vermächtnisse dieser Dominanzformen – insofern als Gruppen, die historisch rassialisiert* worden sind häufig weiterhin Nachteile erfahren, etwa, indem sie Hassverbrechen ausgesetzt sind, oder auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt Diskriminierung erleben.    

„So wichtig öffentliches Erinnern ist – die Auswirkungen historischer Rassismen (…) auf Verteilungsfragen oder die Auslöschung von Leben bleiben
dabei weitgehend ungesühnt.
Dabei schreibt sich historische Ungerechtigkeit in unseren Handlungsroutinen aber auch in Startvorteilen fort. Zum einen, weil materielle Güter vererbt werden,
zum anderen, weil rassistische Repräsentationen sich wandeln
und in modifizierter Form
auftreten.“

Insbesondere Alltagserfahrungen von marginalisierten
Individuen sind doch durch Diskriminierung gekennzeichnet. Warum bleibt
Alltagsrassismus in deiner Analyse aus?
 

Super Frage! Ich schließe Alltagsrassismus natürlich nicht als wichtige Erfahrungsdimension von Rassismus oder Antisemitismus aus – im Gegenteil, es ist die Ausprägungsform, die meist am direktesten erfahren wird, als auch heute am häufigsten als Rassismus erkennbar sind. Für Aktivist:innen, die ihre Erlebnisse im Rahmen antirassistischer Kämpfe mit einer weiteren Öffentlichkeit teilen, sind Alltagserfahrungen oder Darstellungen in den Medien oft ein guter Ausgangspunkt und eindeutig genug, um erklären zu können, wie Rassismus oder Antisemitismus wirkt. Sprich – weil diese Rassismen oft in ihren Auswirkungen in Alltagbegegnungen problematisiert werden, wissen heute mehr Menschen, welche Bezeichnungen rassistisch sind, oder welche Stereotype antisemitische Botschaften transportieren. Zum Beispiel wissen heute viele Menschen, dass es keine denkbaren Umstände gibt, unter denen die Verwendung des N-Wortes oder stereotype bildliche Darstellungen von Juden:Jüdinnen zu rechtfertigen sind. Und so wichtig der Abbau von gewaltsamer (Bild)Sprache ist, ist es damit aber nicht getan.

Für mich bietet Forschung die Chance, etwas tiefer zu graben und mit einem gut konzipierten methodischen Zugang Phänomenen nachzugehen, die etwa mit journalistischen oder aktivistischen Methoden nicht so einfach erkannt und beschrieben werden können. 

Du hast unter anderem vergleichend zwischen Deutschland
und Großbritannien in Bezug auf die politische Situation von
„Muslim:innen“ geforscht. Was sind da die Unterschiede?
 

Mir ging es vor allem darum, die spezifische historische Konstellation, die gesetzlichen Rahmenbedingungen und institutionellen Kulturen zu beleuchten, die jeweils das dominante Bild von Menschen prägen, die als Muslim:innen gelesen werden. Viele davon praktizieren den Islam, aber viele eben auch nicht – der antimuslimische Rassismus wirft jedoch alle, deren Hintergrund in irgendeiner Weise mit einem Land verbunden ist, in dem der Islam die Mehrheitsreligion darstellt, in einen Topf und liest sie visuell als muslimisch erkennbar und „kulturell vom Islam geprägt“ – als gäbe es den einen Islam und die eine muslimische Kultur. Diese Prägung durch orientalische* Diskurse haben Deutschland und Großbritannien gemeinsam, es gibt aber auch viele Unterschiede. Zum einen hat die Einwanderung ein anderes historisches Profil – Großbritanniens Kolonialgeschichte prägt das Migrationsprofil unmittelbar, während Deutschland vor allem koloniale Bestrebungen gegenüber dem Osmanischen Reich hatte, und zunächst die Anwerbung von sogenannten „Gastarbeiter:innen“ und „Vertragsarbeiter:innen“ und später Fluchtmigration die gesellschaftliche Zusammensetzung geprägt hat. Und während beide Staaten auf ihre eigene Art die Rechte von muslimisch gelesenen Menschen eingeschränkt haben, ergaben sich doch auch Vorteile aus dem Wahlrecht und der frühen Verabschiedung von Antidiskriminierungsgesetzen in Großbritannien, die verschiedene eingewanderte Gruppen einfach früher als (potentielle und tatsächliche) Wähler:innen und Kläger:innen in Erscheinung haben treten lassen. Das hat vor allem die Möglichkeiten erweitert, politische Forderungen hörbar zu machen. Wir sehen dennoch in beiden Ländern, dass sowohl historisch etablierte Vorstellungen vom „Orient“*, als auch neuere Konfigurationen von antimuslimischem Rassismus weiterhin rezipiert und reproduziert werden – sowohl im rechtlichen Regelungsverhalten als auch in öffentlichen und semi-öffentlichen Einrichtungen werden damit Praktiken der Abwertung, Gewalt, Ungleichbehandlung und Diskriminierung gerechtfertigt.

Ich habe mich hierbei auch historisch wie auch gegenwärtig mit der Rolle des Christentums beschäftigt: In meinen Arbeiten zu den Wohlfahrtsverbänden Caritas und Diakonie in Deutschland habe ich z.B. gezeigt, wie ein Selbstverständnis als christlich, wohltätig, „vergangenheitsbewältigt“ und qua Berufsverständnis vom Gleichbehandlungsgedanken her geleitet auch dazu dienen kann, rassistische und diskriminierende Praktiken zu rechtfertigen und aufrechtzuerhalten. Ein fixiertes identitätspolitisches Selbstbild von Institutionen als „auf gar keinen Fall rassistisch” kann dabei der eigenen kritischen Selbstreflexion im Wege stehen. Anstatt Rassismus in seinen verschiedenen Spielarten kategorisch von uns zu weisen, ist es viel besser, anzuerkennen, dass wir auf eine Geschichte voller Rassismen zurückblicken, die sich in unseren heutigen Regeln, Handlungsroutinen und Selbstbildern fortschreiben und neu konfigurieren.

Du hast dich in der Vergangenheit insbesondere mit dem
antimuslimischen Rassismus beschäftigt. Jetzt hat sich dein Schwerpunkt
verlagert auf Diskriminierung gegen Menschen aus Osteuropa. Wie kam es
zu diesem Perspektivwechsel? Und wo sind Parallelen und wo die
Unterschiede?
 

Ich würde sagen, es handelt sich hierbei weniger um einen Perspektivwechsel als vielmehr um eine Erweiterung meiner Forschungsinteressen. In meiner Arbeit fiel mir auf, wie verschiedene Rassismen oft parallel artikuliert werden oder ineinandergreifen und sich damit gegenseitig verstärken. Die Interviews, die ich mit Führungskräften der Caritas und Diakonie in Pflegeeinrichtungen geführt hatte, zeigten, dass sowohl die Exotisierung* schwarzer Menschen, als auch antimuslimische und anti-osteuropäische Bilder handlungsleitend wirken. Hierbei ist es mir sehr wichtig, diese verschiedenen Repertoires der Rassialisierung* nicht gleichzusetzen. Ganz im Gegenteil, rassistische Ideen und Praktiken schaffen ein komplexes hierarchisches Gefüge der Zugehörigkeiten, und damit Privilegien und Herabsetzungen. Die durch Rassismen zugewiesene gesellschaftliche Position ist somit nicht permanent fixiert, sondern ist stark kontextabhängig und relational.  

Ich schlage dabei vor, die Rassialisierung von Menschen, die als osteuropäisch gelesen werden, als ambivalent zu verstehen – im Verhältnis zu einer Person, die als westeuropäisch gelesen wird, gilt eine Person aus dem Osten Europas als rückständig, eher undemokratisch, traditionsorientiert, und häufig auch als besonders fleißig und daher für Aufgaben im Niedriglohnsektor qualifiziert. Tatsächlich sind besonders viele Menschen, die aus dem Osten in den Westen Europas gezogen sind, überrepräsentiert in prekären Vertragsverhältnissen, für die sie überproportional häufig überqualifiziert sind. Im Verhältnis zu einer Person, die als nicht-europäisch rassialisiert* wird (etwa als „Schwarz“, „Muslimisch” oder „Roma”) kann eine Person aus Osteuropa jedoch in vielen Fällen die Privilegien des Weißseins und die zugeschriebene Möglichkeit der Anpassungsfähigkeit an westeuropäische Standards für sich ausspielen. Hier wird eine Hierarchie der Zugehörigkeiten konstruiert, die über rassialisierende* Zuschreibungen funktioniert – erkennbar über biologische Merkmale wie Haare, Augen oder Wangenknochen, aber auch Akzent, Kleidung usw. Diese kann, je nach dem mit welcher anderen gesellschaftlichen Position sie verglichen wird, relative Vorteile mit sich bringen, oder aber mit relativen materiellen Benachteiligungen auf dem Arbeits-, Wohnungsmarkt sowie im Justizsystem und im Gesundheitswesen einhergehen.  

Eine Parallele zum antimuslimischen Rassismus besteht in der Funktionsweise – die rassistische Zuschreibung erfolgt nicht über die Invokation einer geteilten „Rasse“, wie das in bestimmten historischen Ausprägungen des kolonialen Rassismus gegenüber schwarzen Menschen oder beim Antisemitismus der Fall ist. Das heißt nicht, dass es sich bei einem der beiden Repertoires um rein kulturellen Rassismus handelt, wie manche argumentieren. Vielmehr werden hier, wie immer beim Rassismus, aber in unterschiedlichen Funktionsweisen, kulturelle mit biologischen Zuschreibungen vermischt. Trotz dieser Verdichtung wird selten eine gemeinsame „Rassenzugehörigkeit“ von Muslim:innen oder Osteuropäer:innen behauptet, sondern vorwiegend impliziert. Sie werden, wie eine Menschensorte klassifiziert, wobei rassistische Zuschreibungen ambivalent funktionieren.

Hier ist es aber besonders wichtig, auch auf Unterschiede hinzuweisen – Menschen, die visuell über Merkmale wie Hautfarbe als anders positioniert werden – wie etwa Muslim:innen und vor allem schwarze Menschen, können solchen Zuschreibungen nicht entkommen. Mit der Möglichkeit, sich bis zur Unsichtbarkeit anzupassen, vor allem über mehrere Generationen hinweg, gehen daher auch enorme gesellschaftliche Privilegien einher. Die zugeschriebene Zugehörigkeit zum „Slawentum“ wird in manchen Kontexten abwertend, aber von denselben Akteur:innen in anderen Kontexten aber auch aufwertend oder als Synonym des „Weißseins“, verwendet. Das macht es einfacher, rassistische Zuschreibungen zu leugnen – obwohl sich diese Zuschreibungen auch historisch konstituieren und geopolitisch, strukturell und institutionell fortschreiben.

„Als osteuropäisch gelesen zu werden gilt immer auch als potenziell assimilationsfähig, während Menschen, denen die potenzielle Zugehörigkeit zu Europa und seinen Gesellschaften systematisch und
über Generationen hinweg
abgesprochen wurde, dem
permanenten physischen und
psychischen Gewaltrisiko durch
Rassismus ausgesetzt sind. (…)
Das heißt aber nicht, dass
Assimilation gewaltfrei ist – auch sie
kann psychologische und materielle
Verluste mit sich bringen.”

Wichtig ist auch hervorzuheben, dass Rassismen Hierarchien so produzieren, dass unterschiedlich rassialisierte* Menschen nicht gleichbetroffen von Rassismuserfahrungen sind. Zum einen sind die jeweiligen historischen Ausprägungen sehr unterschiedlich, und es ist enorm problematisch, verschiedene Genozid-, Mord und Ausbeutungsformen miteinander zu vergleichen. Als osteuropäisch gelesen zu werden gilt auch als potenziell assimilationsfähig, während Menschen, denen die potentielle Zugehörigkeit zu Europa und seinen Gesellschaften systematisch und über Generationen hinweg abgesprochen wurde, einem permanenten physischen und psychischen Gewaltrisiko durch Rassismus ausgesetzt sind. Dieses drückt sich geopolitisch, materiell, gesetzlich, strukturell, institutionell, sprachlich und in Alltagserfahrungen aus. Das heißt aber nicht, dass Assimilation gewaltfrei ist – auch sie kann psychologische und materielle Verluste mit sich bringen. Die durch Rassismen erzeugten komplexen Hierarchien zu erfassen scheint mir ein gewisser blinder Fleck in der Rassismusforschung zu sein, in der sich viele Forschende mit jeweils einem dieser Repertoires auseinandersetzen, anstatt ihren sich gegenseitig verstärkende Abstufungen und deren Wechselwirkung nachzugehen.

Aktuell geht es in der öffentlichen Debatte in
Deutschland vermehrt um antimuslimischen Rassismus. Antisemitismus wird
oft im selben Atemzug genannt. Warum kommt es immer wieder zu der
„Entweder-Oder“ Frage, „Antisemitismus oder Rassismus“?
 

Zum einen stellt Deutschland einen besonderen Kontext dar, in dem Erinnerungskultur besondere Züge entwickelt hat – Max Czollek spricht hier von „Versöhnungstheater“, das einer besonderen Form der Wiedergutmachung dient. Dabei ging es häufig weniger um die materielle Seite der Vergangenheitsbewältigung, über die ich vorhin sprach – wie etwa Entschädigung, Rückübertragung oder Verurteilung wegen Mordes – sondern, so Czollek, um das „Wiedergutwerden“ des Bildes von Deutschland. Jüdische Stimmen aus verschiedenen osteuropäischen Kontexten, die gesellschaftlich eine signifikante Gruppe darstellen, sind hierbei, wie Darja Klingenberg aufzeigt, selten eingeladen, ihre Perspektive beizutragen. Sowohl die materiellen Nachwirkungen der Shoah aber auch deutscher Kolonialverbrechen zu problematisieren, gestaltet sich holprig bis defizitär. Die öffentliche Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte kreiert daher den Eindruck, der Antisemitismus sei besonders erfolgreich aufgearbeitet und bewältigt worden. Diese Illusion verschleiert häufig den Blick für die heutige Virulenz des Antisemitismus.

Sie verengt das Verständnis von Rassismus zudem auf seine historischen Manifestationen – was wiederum andere Spielarten des Rassismus von der Liste deutscher Verantwortlichkeiten entfernt oder auslagert.

Zudem haben diese Debatten ihre Wirkung auf Betroffenencommunities. Verschiedene Rassismen und Antisemitismus sind Gewaltformen, die Menschen, die als anders konstruiert werden, in komplexe Zugehörigkeitshierarchien verweisen. Ihre Wirksamkeit speist sich aus der Logik des „Divide and Rule” – sie schaffen die Illusion der Andersartigkeit und unterschiedlichen Wertigkeit verschiedener Zugehörigkeiten. Damit werden jene, die in dieses komplexe hierarchische Gefüge gepresst werden, zu Spieler:innen um begrenzte Ressourcen. Und weil Rassismen und Antisemitismus historisch und gegenwärtig Schmerzen und Leid erzeugt haben und weiterhin erzeugen, ist es Teil von antirassistischen Kämpfen, die eigene Erfahrung zur Sprache zu bringen. In diesen Narrativen kann bisweilen das Leiden der anderen zu kurz kommen – Rassismus als Nullsummenspiel zu begreifen („Nur mir, nicht Dir“) kann eine fiese Falle sein, die der Komplexität dieser verschränkten Repertoires nicht gerecht wird.  

Was wünscht du dir von Debatten über verschiedene Diskriminierungsformen? 

Ich wünsche mir, dass Menschen, die sich gegen Diskriminierung einsetzen, sich nicht gegeneinander ausspielen lassen – dass wir die artifiziellen Hierarchien, in die wir gepresst werden, mitdenken, relative Privilegien anerkennen, und damit effektiver zum Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus beitragen können.

Ich wünsche mir zudem eine ehrliche Politik, die nicht versucht, mittels Nationalismus und Ausgrenzung zu integrieren, die Überlegenheitsfantasien hinter sich lässt, und sich der derzeitigen Bedrohung durch gemainstreamten Rechtsextremismus mutiger entgegenstellt. Wichtig ist hierfür auch ein gezielteres Vorgehen gegen historisch verankerte und institutionell festgeschriebene Formen der Dominanz. Die gegenwärtigen Großdemonstrationen machen mir Hoffnung, aber sie sollten nur der Anfang einer entschiedeneren Eindämmung rassistischer Dynamiken und ihrer multiplen Mechanismen der Ausgrenzung sein.

 

Das Interview führte Eleonora Han.

 

 

Glossar

Rassialisierung: Der Vorgang, bei dem bestimmte körperliche Merkmale, wie etwa das Aussehen (z.B. Augenfarbe, Hautfarbe, Haarfarbe, die Gestalt der Nase oder der Wangenknochen) oder religiöse oder kulturelle Praktiken und Kleidungsstile mit einer Zugehörigkeit assoziiert und kausal mit Eigenschaften wie Intelligenz, Wertehaltung, Zuverlässigkeit, (Nicht)Eignung für Führungspositionen usw. verknüpft werden. Dieses Dreieck der Kausalität (Merkmal = Zugehörigkeit = Eigenschaften) wird als biologisch und/oder kulturell von Generation zu Generation weitergegeben verstanden. Damit entsteht der Eindruck, Zugehörigkeiten seien nicht wandelbar und von verschiedenen Einflüssen geprägt, sondern starr und unveränderlich, über Generationen hinweg. Jemand kann z.B. als „Weiß“ rassialisiert werden, wobei davon ausgegangen wird, dass das Aussehen dieser Person mit positiven oder als „normal“ verstandenen Verhaltensweisen, Werthaltungen und Eignungen einhergeht, oder eben als „Anders“ rassialisiert werden (also etwa als „Jüdisch“, „Muslimisch“, „Roma“, „Schwarz“ usw.), wobei dieser Person Abweichungen von jener Norm zugeschrieben werden, auf deren Grundlage diese Person ein höheres Risiko hat, Abwertung, Diskriminierung, oder Gewalt ausgesetzt zu sein.

Essentialisieren/Essentialismus: Die Annahme, es gebe einen unveränderlichen biologisch-kulturellen Kern, der festlegt, wie eine Person denkt, fühlt und welche intellektuellen oder handwerklichen Fähigkeiten diese Person hat.

Extraktivismus: Ursprünglich beschreibt der Begriff die gewaltsame Entfernung natürlicher Ressourcen aus der Erde zum Zwecke der Gewinnmaximierung, die die Lebensbedingungen der dort angesiedelten Menschen verschlechtert oder zerstört. Er wird nun aber auch herangezogen, um gewaltsame Formen der Landnahme, sowie der Ausbeutung von Arbeitskraft oder auch der (beabsichtigten oder unbeabsichtigten) Auslöschung menschlichen Lebens zu beschreiben, die mit wirtschaftlichem und politischem Profit einhergeht.

Orient bzw. Orientale: Ein Begriff dem die Vorstellung zugrunde liegt, bestimmte Teile Asiens und Nordafrikas ließen sich als einheitlicher geographischer Raum begreifen, der von Rückständigkeit und Entwicklungsresistenz geprägt ist und dessen Einwohner:innen ähnliche Eigenschaften teilen und über Generationen weitergeben.

Exotisierung: Die vereinfachende Beschreibung einer Person oder eines geographischen Raums als verführerisch anders, sexuell stimulierend oder begehrenswert zu Zwecken der eigenen Bedürfnisbefriedigung. Hierbei wird menschliche Komplexität wegretuschiert und die Person oder der geographische Raum zu Konsumzwecken instrumentalisiert. 

 

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