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Zwischen Stalin und Hitler: Die verschwiegene Geschichte der Russlanddeutschen

Russlanddeutsche waren Opfer Hitlers und Stalins, zugleich wurden sie vom NS-Regime zu Tätern gemacht. In der deutschen Erinnerungskultur fehlt bis heute ein Platz für ihre Perspektiven auf den Zweiten Weltkrieg. Warum es Zeit ist, diese Stimmen endlich mitzuerzählen – und was das für unsere gemeinsame Erinnerung bedeutet.
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Ich wollte mich erinnern können – schon immer. Kaum kannte ich das Alphabet, legte ich mir ein Heft zu, in dem ich akribisch jede Kleinigkeit meines Lebens in der nordkasachischen Steppe festhielt. Leider nahmen wir die Hefte nicht mit, als wir 1992 nach Deutschland umsiedelten. In den beiden Koffern waren für meine Erinnerungsstützen kein Platz. In Deutschland wollte ich nicht mehr auf Russisch schreiben. Nach einem Jahr war mein Deutsch aber ausreichend, um wieder alles zu notieren, was der Alltag – nun in einer Kleinstadt in Baden-Württemberg – hergab. Angefangen bei den TV-Shows, die ich täglich stundenlang schaute und samt Sendezeiten aufschrieb, über die Spiele, die unsere Kindheit auf den Straßen „Kleinkasachstans“ begleiteten, bis hin zu den Namen der Jungs, in die ich verknallt war. Nichts wollte ich vergessen. Jahr um Jahr füllten sich so Hefte, dann ganze Bücher.

Immer wenn mir ältere Verwandte von früher erzählten, den Hungerjahren in der Ukraine oder ihrer Deportation nach Kasachstan, notierte ich mir all ihre Worte. Was in meinen Geschichtsbüchern auf dem Gymnasium fehlte, wollte ich wenigstens für unser Familiengedächtnis konservieren.

Mein Zwang, alle Ereignisse und Gedanken festhalten zu wollen, machte auch vor meinen Mitmenschen nicht halt. Immer wenn mir ältere Verwandte von früher erzählten, den Hungerjahren in der Ukraine oder ihrer Deportation nach Kasachstan, notierte ich mir all ihre Worte. Was in meinen Geschichtsbüchern auf dem Gymnasium fehlte, wollte ich wenigstens für unser Familiengedächtnis konservieren.

Heute klopften einige dieser stillen Wörter an – wie alte Bekannte, die lange geschwiegen hatten. Das Ende des Zweiten Weltkriegs jährt sich dieser Tage zum 80. Mal – und ich musste an Tante Olga denken. An den schmerzhaftesten Moment ihres Lebens, den sie mir vor einigen Jahren anvertraut hatte. Es war 1942 und ihr Lieblingsonkel Helmut sollte in die sowjetische Arbeitsarmee, die sogenannte Trudarmija, eingezogen werden. Ebenso wie über 80 Prozent der deutschen Männer zwischen 15 und 55 Jahren sowie ein Drittel der arbeitsfähigen Frauen damals. Auf diese Weise machte das Regime unter Diktator Stalin 350.000 Sowjetdeutsche zu Baumfällerinnen in Sibirien oder Goldwäschern an der Kolyma. Das sollte ihr Beitrag zum Sieg gegen Hitlerdeutschland werden. An die Front ließ man sie natürlich nicht. Die über eine Million Deutschen in der Sowjetunion standen nämlich unter Generalverdacht, Kollaborateure Hitlers zu sein. Beim Abschied klammerte sich die dreijährige Olga verzweifelt an ihren Onkel und bettelte unter Tränen, er möge bleiben. Gehen musste er trotzdem.

Ich weiß nicht, wie schnell die Nachricht vom Sieg über Nazideutschland im Mai 1945 zu meiner Familie in die Steppe durchdrang. Sicher ist nur, dass das Ende des Zweiten Weltkriegs nicht das Ende des Leids für sie und die anderen Russlanddeutschen markierte. Der Sieg war nicht ihr Sieg. Wohl aber ein Moment, der sie hoffen ließ. Darauf, dass Trudarmisten wie Helmut oder Gulaghäftlinge wie mein Großvater Jonat zurückkehren würden. Darauf, dass sie selbst nicht mehr in Sondersiedlungen für Deportierte eingesperrt leben müssten, wie es seit dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941 der Fall war. Doch die Hoffnungen zerschlugen sich schnell.

Vor allem für all die Sowjetdeutschen, die zwischen 1942 und 1944 im besetzten Polen oder in der Ukraine unter deutscher und rumänischer Besatzung gestanden hatten. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs brachte die Rote Armee über 280.000 dieser Menschen „heim“ in Stalins Reich. Schließlich waren sie noch immer Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion. Einen Teil lieferten auch britische und amerikanische Truppen aus West-Trümmerdeutschland an die Sowjets aus. Sie kamen in die Tundra, den Ural und andere Gegenden mit Permafrostböden, in denen Sterben wenig Mühe kostete. Den »repatriierten« Sowjetdeutschen schlug noch mehr Hass und Misstrauen entgegen als den zuvor deportierten wie meinen Großeltern. Aus Sicht der Bevölkerungsmehrheit waren sie freiwillig zum Feind übergelaufen. Selbst in zurückgekehrten Ostarbeiterinnen und russischen Kriegsgefangenen sahen die mit Propaganda vollgesogenen Sowjetmenschen Vaterlandsverräterinnen und -verräter.

Auch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg sprach in der Sowjetunion niemand über deutsche Opfer. Es hatte die Männer nie gegeben, die nachts kamen, um Onkel, Väter, Ehemänner und Söhne abzuholen. Es hatte die Züge voller Deportierter nie gegeben und Zehntausende Menschen nicht, welche die Verschleppung aus den deutschen Siedlungen nach Sibirien und Zentralasien nicht überlebt hatten. Auch die Arbeitslager nicht, aus denen ein Teil meiner Verwandten nie zurückkehrte.

Die Sowjetdeutschen blieben auch Jahrzehnte nach Ende des zweiten Weltkriegs, des Großen Vaterländischen Kriegs wie die Sowjetunion ihn nannte, Bürger und Bürgerinnen zweiter Klasse. Erst als Stalin 1953 starb, begann das Regime, den Deutschen in kleinen Dosen ihre Rechte wiederzugeben. Die Kommandantur und damit das Regime der Sondersiedlungen endete im Dezember 1955. Eine Rückkehr in die ehemaligen Kolonien an der Wolga oder im Südkaukasus erlaubte ihnen der Staat trotzdem erst 1972 – was dann aber kaum noch jemand nutzte. Auch meine Großeltern kehrten nie in die Ukraine zurück.

Verboten blieb das Erinnern: Auch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg sprach niemand über deutsche Opfer. Es hatte die Männer nie gegeben, die nachts kamen, um Onkel, Väter, Ehemänner und Söhne abzuholen. Es hatte die Züge voller Deportierter nie gegeben und Zehntausende Menschen nicht, welche die Verschleppung aus den deutschen Siedlungen nach Sibirien und Zentralasien nicht überlebt hatten. Auch die Arbeitslager nicht, aus denen ein Teil meiner Verwandten nie zurückkehrte. Offiziell gab es in der Sowjetunion nach dem Krieg keine deutsche Minderheit mehr. Über eine Million Menschen existierten angeblich nicht. Und irgendwann fingen diese Menschen selbst an, sich zu verschweigen. Briefe, Unterlagen und Fotos wurden auch in meiner Familie unter Verschluss gehalten oder eliminiert, Gefühle wie Trauer und Wut auch. Kinder erfuhren nur wenig von den ursprünglichen Siedlungsorten ihrer Eltern auf der Krim, an der Wolga oder in Wolhynien im Westen der Ukraine. Manche nicht einmal, dass sie Deutsche waren. So ist es kaum verwunderlich, dass heute viele Russlanddeutsche nur wenig über die Herkunft ihrer Familien wissen.

Russlanddeutsche waren im kollektiven Verständnis der Sowjetunion »Faschisten« und »Vaterlandsverräter«. An dieser Wahrnehmung hatten auch Glasnost und Perestroika wenig geändert. Auch als Gulag in den Achtzigerjahren endlich nicht mehr geflüstert werden musste, blieben die Deutschen als Teil der geschätzten 20 Millionen Opfer der stalinistischen Repressionen ungesehen.

Bis weit in die Achtziger reichte das Schweigen und die mit ihm einhergehende strukturelle Diskriminierung der Deutschen in der Sowjetunion, zum Beispiel durch einen erschwerten Zugang zu höherer Bildung. 1983 schaltete sich sogar der Europarat ein und schlug der Sowjetunion eine »Aufhebung der Benachteiligungen der Sowjetdeutschen« vor, was die autoritär geführte Sowjetunion allerdings als Einmischung von außen zurückwies.

Vor diesem Hintergrund hatten Russlanddeutsche in der Sowjetunion keine Chance, als Leidtragende Teil des kollektiven Erinnerns zu werden. Um dort als Opfer zu gelten und so das Land zu einer »symbolischen oder gar materiellen Wiedergutmachung zu bringen, hätte es wohl eines heroischen Opfernarrativs bedurft«, beschreibt es Theologe Ralph Hennings. Respektierte Opfer seien in der (post-)sowjetischen Erinnerungskultur immer Kämpfer für die Gemeinschaft gewesen. Russlanddeutsche waren im kollektiven Verständnis der Sowjetunion aber »Faschisten« und »Vaterlandsverräter«. An dieser Wahrnehmung hatten auch Glasnost und Perestroika wenig geändert. Auch als Gulag in den Achtzigerjahren endlich nicht mehr geflüstert werden musste, blieben die Deutschen als Teil der geschätzten 20 Millionen Opfer der stalinistischen Repressionen ungesehen.

Eine förmliche Rehabilitation erfolgte erst, als es schon zu spät war; sie wurde 1992 vom damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin ausgesprochen. Wie ernst jener diese Rehabilitation meinte, wurde noch im selben Jahr deutlich, als er die Russlanddeutschen öffentlich demütigte. Auf die Forderung nach einem autonomen Gebiet für die Wolgadeutschen schlug Jelzin damals nämlich Kapustin Jar vor: ein verseuchtes Raketentestgelände zwischen Russland und Kasachstan. Mehr Zynismus war kaum vorstellbar. Immerhin erleichterten all diese Ereignisse meiner Familie und anderen Deutschstämmigen damals die Entscheidung für eine Ausreise nach Deutschland.

Heute werden in Russland stalinistische Verbrechen sogar erneut verschwiegen. Seit Putins Machtantritt im Jahr 2000 verfälscht und instrumentalisiert er Geschichte im Sinne seiner neoimperialen Politik. Zentrales Thema dabei ist der sowjetische Sieg im Großen Vaterländischen Krieg. Den lässt Putin in zahlreichen neuen TV-Produktionen reinszenieren und den 9. Mai als Tag des Sieges auf dem Roten Platz in Moskau ordentlich befeiern. Stalin erstrahlt dabei als glorreicher Sieger über Hitler. Mittlerweile ist der Sowjetdiktator für Putins Russland eine Art Maskottchen geworden, das die Umwandlung des postkommunistischen Landes in eine repressive Gesellschaft mit Merkmalen des sowjetischen Totalitarismus begleitet.

Dass der Sieg über Nazideutschland aber nur möglich war durch die Zusammenarbeit mit den Westmächten, zehn bis zwölf Millionen gefallene Soldaten und Soldatinnen auf sowjetischer Seite – die damals wie die russischen Militärangehörigen heute meist ohne notwendige Vorbereitung aufs Schlachtfeld geschickt wurden – und die gigantische Industrialisierung auf dem Rücken von Millionen an Arbeitssklaven, unter anderen auch deutschen Trudarmistinnen und Trudarmisten, bleibt unerwähnt. Das sowjetische Menschenbild wirkt hier auf massive Weise fort und mit ihm die völlige Missachtung des Individuums. Der Glanz Stalins und die Gloria des sowjetischen Volkes sind für Putin effektive Mittel, um die patriotischen Gefühle der Bevölkerung zu wecken, die er für seine eigenen Kriege braucht. Die Archive sind noch immer oder unter Putin erneut unter Verschluss, eine Aufarbeitung der Verbrechen an den Sowjetdeutschen wird es in Russland zunächst nicht geben. Dabei halten es Wissenschaftler wie Otto Luchterhandt für »zulässig, von ›genozidären‹ Taten zu sprechen, und zwar deswegen, weil die Behandlung der Russlanddeutschen unter Stalin jedenfalls den objektiven Tatbestand des Völkermordverbrechens erfüllt.«

Russlanddeutsche wurden also zu Opfern beider Diktaturen, der deutschen und der sowjetischen. Unter ihnen gab es aber auch Täter.

Russlanddeutsche wurden also zu Opfern beider Diktaturen, der deutschen und der sowjetischen. Unter ihnen gab es aber auch Täter. Ein Teil der sowjetdeutschen Männer, die unter deutsche und rumänische Besatzung geraten waren, kämpften nämlich für Hitler. Genaue Zahlen sind unbekannt, aber allein nach dem Führererlass vom 19. Mai 1943 wurden 10.000 bis 12.000 Wehrmachtsangehörige durch die Einwanderungszentralstellen für Umsiedler aus dem Osten geschleust. Einige von ihnen, die nicht unmittelbar für Hitlers Traum vom Lebensraum im Osten aufs Schlachtfeld mussten, machte das Naziregime auf andere Weise zu Mithelfenden und Mitwissenden der Vertreibung und Ermordung der polnischen und jüdischen Bevölkerung.

So gibt es Belege aus der Forschung, die eine Verstrickung der Ukrainedeutschen bei der Ermordung von Jüdinnen und Juden nachweisen. Der Historiker Gerhard Rempel etwa, emeritierter Professor des Western New England College, legt dar, dass deutsche Mennoniten zwischen 1941 und 1943 in der Region Saporischschja als Hilfspolizisten an den Morden an mehr als 44.000 Jüdinnen und Juden beteiligt waren. Eric Steinhart, ebenfalls US-amerikanischer Historiker, beschreibt in The Holocaust and the Germanization of Ukraine den Ablauf einzelner Massenexekutionen wie diejenige in der Nähe von Bohdaniwka, 50 Kilometer nordwestlich von Mykolajiw. Dort erschossen und verbrannten im Dezember 1941 und Januar 1942 SS-Angehörige 52.000 jüdische Menschen, vor allem Frauen, Kinder und Ältere. An diesem Verbrechen waren neben ukrainischen Hilfspolizisten auch etwa 60 Ukrainedeutsche aus den umliegenden Ortschaften beteiligt.

Als ich im Oktober 2021 an einer Gedenkveranstaltung an der Stelle der Massenexekutionen in Bohdaniwka teilnahm und einen Überlebenden interviewte, wusste ich noch nicht, dass Russlanddeutsche zu den Mördern gezählt hatten. Die neuen Erkenntnisse machten mich umso fassungsloser. Dieser Teil der russlanddeutschen Geschichte war mir völlig neu.

Trotz dieser Fakten: Die allermeisten Russlanddeutschen befanden sich während des Zweiten Weltkriegs in Sondersiedlungen oder Arbeitslagern und hatten keinen Kontakt mit den Nationalsozialisten. Die pauschale Beschuldigung der Kollaboration diente dem stalinistischen Regime lediglich als Vorwand, um die Deutschen im europäischen Teil der UdSSR systematisch zu vertreiben. Mit Mühe kam meine Mutter 1991 an ein Stück Papier, das meinen Opa Jonat 17 Jahre nach seinem Tod rehabilitierte. Die Deportation »aus nationalen Gründen«, neun Jahre Gulag und zehn Jahre Sondersiedlung – ein geschichtlicher Irrtum. Verantwortlich war natürlich niemand. Nach Ende der Sowjetunion klassifizierte Russland, das formal Nachfolger der UdSSR wurde, die Vorwürfe gegen die deutsche Minderheit zwar als Verbrechen, eine Wiedergutmachung gab es aber nicht.

Während in Russland die stalinistischen Verbrechen systematisch ausgeblendet oder verklärt werden, bleibt auch in Deutschland ein wichtiger Teil dieser Geschichte oft unsichtbar: Die Erfahrungen der Russlanddeutschen mit Repression, Deportation und Zwangsarbeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg sind bis heute kaum Teil des kollektiven Gedenkens.

Während in Russland die stalinistischen Verbrechen systematisch ausgeblendet oder verklärt werden, bleibt auch in Deutschland ein wichtiger Teil dieser Geschichte oft unsichtbar: Die Erfahrungen der Russlanddeutschen mit Repression, Deportation und Zwangsarbeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg sind bis heute kaum Teil des kollektiven Gedenkens. Doch warum ist das so? Einerseits erkennt Deutschland als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches bis heute Russlanddeutsche als Opfer des Nationalsozialismus an und gewährt Nachfahren der Deportierten – wie einst meiner Familie – die Aufnahme als Spätaussiedler samt deutscher Staatsbürgerschaft. Andererseits sucht man in den deutschen Geschichtsbüchern oder auf Gedenkveranstaltungen in Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg Russlanddeutsche vergebens.

Als Kind versuchte ich, gegen das Vergessen anzuschreiben. Heute weiß ich: Erinnerung ist mehr als eine private Geste. Sie braucht Raum, Resonanz und Anerkennung. Vielleicht sind es genau diese kleinen Sätze aus meinen alten Heften, die den Anfang machen – für eine Geschichte, die endlich ganz erzählt wird.

Folgt man dem Theologen Hennings, hat das vor allem mit »den historischen Diskontinuitäten, denen die Russlanddeutschen als Gruppe in den Zeitläufen ausgesetzt waren«, zu tun. Ihre Geschichte ist also von so vielen Brüchen durchzogen, dass selbst ein kollektives Gedächtnis da nicht mehr mitkommt. Drei Voraussetzungen hätte die Gruppe der Russlanddeutschen erfüllen müssen, um in der deutschen Erinnerungskultur als Opfer anerkannt zu werden, so der Historiker Martin Schulze Wessel: Sie hätten gut organisiert sein müssen, hätten einen Zugang zu Medien gebraucht und die Mehrheitsgesellschaft hätte ihr Paradigma des »passiven Opfers« verstehen und akzeptieren müssen. Bislang haben sie das wohl nicht hingekriegt.

Obwohl sich scheinbar die Sowjetunion und Deutschland zum kollektiven Schweigen verabredet hatten, wanderten zumindest in meiner Familie Erinnerungen an das Erlebte mit aus. Ausgepackt wurden sie aber erst Jahre später. Tantes Olga Worte hatte ich glücklicherweise behutsam in mein Tagebuch gelegt. Jedes einzelne bleibt zerbrechlich, weil kein öffentliches Gerüst die einzelnen Erinnerungen stützt. Helmut überlebte, lese ich in meinem alten Tagebuch, während etwa 70.000 deutsche Trudarmistinnen und Trudarmisten starben. Trotzdem durfte er nach seiner Entlassung nicht in sein Dorf in der Steppe zurückkehren. Tante Olga zog ihm als junge Frau aber hinterher, ihre enge Bindung konnte selbst die eiserne Hand des Regimes nicht kappen. Wie so viele ehemalige Zwangsarbeiter starb Helmut früh – mit nur 56 Jahren, an den Folgen der katastrophalen Haftbedingungen. Bis zuletzt blieb er Tante Olgas Lieblingsonkel.  

Als Kind versuchte ich, gegen das Vergessen anzuschreiben. Heute weiß ich: Erinnerung ist mehr als eine private Geste. Sie braucht Raum, Resonanz und Anerkennung. Vielleicht sind es genau diese kleinen Sätze aus meinen alten Heften, die den Anfang machen – für eine Geschichte, die endlich ganz erzählt wird. Auch die russlanddeutsche. Dann kann Erinnerung ein gemeinsames Fundament bilden, das verbindet – und Russlanddeutschen einen gleichwertigen Platz in der deutschen Erinnerungsverantwortung und der Gesellschaft gibt. Dann erst erhalten auch Helmut, Olga und Jonat ihre Würde zurück.

Literatur:

Alfred Eisfeld: Vom Stolpersein zur Brücke – die Deutschen in Russland. In Christoph Bergner, Matthias Weber (Hrsg.): Aussiedler- und Minderheitenpolitik in Deutschland (R. Oldenbourg Verlag München 2009).

Kornelius Ens, Jannis Panagiotidis, Hans-Christian Petersen (Hrsg.): Diktatur – Mensch – System: Russlanddeutsche Erfahrungen und Erinnerungen (Brill Schöningh Paderborn 2023).

Erik Franzen, Martin Schulze Wessel (Hrsg.): Opfernarrative. Konkurrenzenund Deutungskämpfe in Deutschland und im östlichen Europa nachdem Zweiten Weltkrieg (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 126,München 2012).

Ralph Hennings: In Russland Faschisten, in Deutschland Russen: Russlanddeutsche zwischen den Kulturen. In: Martin Tamcke (Hrsg.): Europäische Interaktionsfelder: Erkundungen zu deutsch-russischen Beziehungen
(Universitätsverlag Göttingen 2017).

Otto Luchterhandt: Die Russlanddeutschen, eine traumatisierte Volksgruppe – Herausforderung für ihre Integration in Deutschland. In: Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa an der
Universität Hamburg: Deportationen in Stalins Sowjetunion. Das Schicksal der Russlanddeutschen und anderer Nationalitäten
(Nordost-Archiv Zeitschrift für Regionalgeschichte Lüneburg 2013).

Gerhard Rempel (2003): Mennonites and the Holocaust: From Collaboration to Perpetuation. In: The Holocaust and the Mennonites: A Special Issue of the Journal of Mennonite Studies (University of Manitoba Winnipeg).

Eric C. Steinhart (2015): The Holocaust and the Germanization of Ukraine (Publications of the German Historical Institute Washington D.C., Cambridge University Press Cambridge).

Einwandererzentralstelle Litzmanstadt. Abgerufen am 01.05.2025 über: https://portal.ehri-project.eu/units/de-002429-r_69


Ira Peter ist freie Journalistin unter anderem für ZEIT online, taz, Frankfurter Rundschau und SWR Radio. Als Deutsche aus Kasachstan setzt sie sich seit 2017 öffentlich wie im Aussiedler-Podcast „Steppenkinder“ mit russlanddeutschen Themen auseinander. Peter wurde mehrfach für ihre Arbeit ausgezeichnet, unter anderem 2022 mit dem „Goldenen Blogger Award“ für ihren Blog, den sie als Stadtschreiberin von Odessa 2021 geführt hatte, 2022 mit dem russlanddeutschen „Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg“ für „Steppenkinder” und 2023 mit dem „Recherchepreis Osteuropa“ für ihre Recherche zu Frauen mit Behinderungen in Armenien. Im März 2025 erschien ihr erstes Buch „Deutsch genug? Warum wir endlich über Russlanddeutsche sprechen müssen“ (Goldmann Verlag).

Foto: Arthur Bauer

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