Du hast unter anderem zu Arbeit und Identität bei Frauen geforscht, die als Spätaussiedlerinnen nach Deutschland gekommen sind. Welche Rolle spielt Arbeit im Leben der Menschen allgemein und bei den Protagonistinnen deiner Forschung?
Die meiste Zeit unseres Lebens verbringen wir mit Arbeit. Was genau als Arbeit gilt, unterscheidet sich je nach Kultur und Zeit. Allerdings sind Tätigkeiten, die wir als Arbeit oder Beruf verstehen, überall ein notwendiger Teil des menschlichen Lebens. Studien zeigen seit Langem, dass Arbeit nicht nur als Mittel zur Schaffung von Identität und Lebensunterhalt gilt, sondern auch als grundlegendes Prinzip zur Organisation von unseren Gesellschaften. Arbeit ist immer eine soziale Aktivität, die Menschen und Beziehungen auf allen Ebenen verbindet – von Einzelpersonen und Familien über Gemeinschaften bis hin zu globalen Netzwerken.
Während Arbeit unser Leben mit Sinn bereichert, verkörpert sie gleichzeitig Unsicherheit, sozialen Abstieg, Erschöpfung und Ausgrenzung. Diese dunklere Seite der Arbeitserfahrung – und wie Menschen damit umgehen und darauf reagieren – ist das zentrale Thema, das meine Forschung untersucht.
In Deutschland bleiben bezahlte Beschäftigung und wirtschaftliche Selbstständigkeit zentrale Faktoren für die Integration. Arbeit wird als wesentlich für „die moralische Gesundheit einer demokratischen Bürgerschaft“ angesehen. Allerdings ist die Arbeitswelt durch institutionalisierte Ungleichheiten geprägt, wodurch insbesondere Einwanderer:innen und andere marginalisierte Gruppen den Herausforderungen ausgesetzt sind.
Trotz eines Wandels hin zu einer Integrationspolitik in den frühen 2000er Jahren und zahlreicher Aufrufe zu einer vielfältigeren und inklusiveren Gesellschaft bleibt der Arbeitsmarkt in Deutschland eine entscheidende „Sortiermaschine“, die die Chancen von Einwanderer:innen, sich sozial und beruflich zu etablieren, erschwert.
Frühere Studien zeigen, dass ungleicher Zugang zum Arbeitsmarkt eine deutliche Ausprägung fremdenfeindlicher Vorurteile ist. Trotz eines Wandels hin zu einer Integrationspolitik in den frühen 2000er Jahren und zahlreicher Aufrufe zu einer vielfältigeren und inklusiveren Gesellschaft bleibt der Arbeitsmarkt in Deutschland eine entscheidende „Sortiermaschine“, die die Chancen von Einwanderer:innen, sich sozial und beruflich zu etablieren, erschwert.
Tatsächlich hat der Arbeitsmarkt, dem meine Protagonistinnen begegnen, eine Geschichte niedriger Integrationsraten, begrenzter Aufstiegsmöglichkeiten und deutlich höherer Arbeitslosenquoten im Vergleich zu Einheimischen. Häufige Themen in ihren Erzählungen sind Beschwerden über voreingenommene Einstellungen und ein Gefühl der Benachteiligung bei der Arbeitssuche. Darüber hinaus sind sie überproportional häufig in prekären, niedrig bezahlten Berufen wie Pflege, Verkauf, Gastronomie und Industrie beschäftigt – oft trotz höherer Qualifikationen. Bemerkenswerterweise sind dies auch die Bereiche, in denen Deutschland derzeit die höchsten Fachkräftemängel verzeichnet, sodass bis 2035 ein Mangel von bis zu sieben Millionen Arbeitskräften droht.
In einem Artikel über deine Forschungsarbeit schreibst du, Spätaussiedlerinnen befänden sich zwischen Privileg und Marginalisierung. Kannst du erläutern, was damit gemeint ist?
Im Gegensatz zu vielen anderen Migrant:innengruppen in Deutschland nehmen Spätaussiedler:innen eine vergleichsweise privilegierte Position in den strengen Migrationspolitiken des Landes ein. Sie werden rechtlich als zurückkehrende Staatsangehörige und nicht als „Ausländer“ anerkannt, was ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft und einen besonderen Status verleiht. Dieses Privileg zeigt sich auch in ihren anderen Merkmalen, wie ihrer häufig weißen Hautfarbe, ihrem säkularen Lebensstil oder ihrem christlichen Hintergrund, die sie im Alltag weniger auffällig machen und sie im Vergleich zu Migrant:innen of Color seltener Diskriminierung aussetzen. In politischen Debatten werden Spätaussiedler:innen oft als gut integriert und relativ unproblematisch angesehen.
Gleichzeitig, wie ich in meinem Artikel diskutiere, wird ihre Zugehörigkeit zum Deutschsein häufig infrage gestellt. Auch wenn sie die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, werden sie oft als „innere Andere“ wahrgenommen, die mit sowjetischen Erfahrungen, überholten Lebensweisen und einer Mentalität in Verbindung gebracht werden, die nicht in das moderne Deutschland zu passen scheint. Ein Beispiel dafür ist die 2022 ausgestrahlte Dokumentation des Südwestrundfunks „Russlanddeutsche – unsere fremden Nachbarn“, die mit der Frage beginnt: „Sie wohnen bei uns, sie arbeiten bei uns. Aber gehören sie wirklich dazu?“
Aus diesem Grund befinden sich Spätaussiedler:innen oft in einer Grauzone zwischen Privileg und Marginalisierung. Auf dem Papier sind sie Deutsche, doch ihre Akzente und ihre Geschichte der Sozialisation in der Sowjetunion lassen sie für viele als fremd erscheinen. Die Erwartungen, dass Spätaussiedler:innen sich anpassen und „aufholen“ müssen, verstärken ihre Einstufung als „unterlegene Andere“. Ihr sowjetischer Hintergrund prägt die öffentliche Wahrnehmung stark, wobei viele Stereotype sie als passiv, kollektivistisch und übermäßig autoritätsgläubig darstellen. Diese Stereotype sind jedoch keine bloßen Vorurteile; sie sind in breitere Hierarchien europäischer Zugehörigkeit und rassischer Stratifikation eingebettet, wie jüngere Forschungen zeigen.
Du sagst, die befragten Frauen sehen sich mit Voreingenommenheit konfrontiert und berichten von einem Gefühl der Benachteiligung. Welche weiteren Erfahrungen machen Spätaussiedlerinnen deiner Forschung zufolge im Arbeitsleben?
Dieser unsichere Status hat reale, greifbare Auswirkungen auf das Alltagsleben der Menschen. Trotz ihrer rechtlichen Privilegien standen viele Spätaussiedler:innen vor erheblichen wirtschaftlichen Herausforderungen, darunter sozialer Abstieg. Obwohl sie theoretisch das Recht auf Anerkennung ihrer Abschlüsse hatten, zeigen Studien, dass bis zu der Hälfte aller Anträge abgelehnt wurden. Der Anerkennungsprozess wurde oft durch übermäßig komplizierte Verfahren, Sprachbarrieren, hohe Kosten und mangelnde Transparenz oder Unterstützung durch Institutionen behindert, was viele davon abhielt, es überhaupt zu versuchen.
Viele Frauen dieser Generation landeten schließlich in schlecht bezahlten oder unsicheren Jobs, beispielsweise als Kassiererinnen in Supermärkten, in der Pflege oder als „professionelle Reinigungskräfte“, oft am Rande formeller Beschäftigung. Solche Arbeit ist zwar essenziell, um die Wirtschaft am Laufen zu halten, wird jedoch häufig übersehen, als „leicht ersetzbar“ angesehen und selten mit der Anerkennung oder Wertschätzung bedacht, die sie verdient.
Die Frauen, mit denen ich gesprochen habe – geboren zwischen den späten 1950er- und 1970er-Jahren – berichteten, dass ihre Ausbildung und Qualifikationen häufig als veraltet oder irrelevant abgetan wurden. In manchen Fällen wurden sie schlichtweg als ungeeignet für moderne, kapitalistische Wirtschaften betrachtet. Eine Frau erinnerte sich beispielsweise an ihre Schwierigkeiten während einer beruflichen Umschulung, bei der ihre Fähigkeiten ständig von Mitschüler:innen und Lehrer:innen infrage gestellt wurden. Sie musste sich Kommentare anhören wie: „Können Sie überhaupt lesen?“, „Verstehen Sie das?“ und „Glauben Sie, dass Sie die Prüfung bestehen werden?“
Viele Frauen dieser Generation landeten schließlich in schlecht bezahlten oder unsicheren Jobs, beispielsweise als Kassiererinnen in Supermärkten, in der Pflege oder als „professionelle Reinigungskräfte“, oft am Rande formeller Beschäftigung. Solche Arbeit ist zwar essenziell, um die Wirtschaft am Laufen zu halten, wird jedoch häufig übersehen, als „leicht ersetzbar“ angesehen und selten mit der Anerkennung oder Wertschätzung bedacht, die sie verdient.
In diesem Zusammenhang berichteten die Frauen von einem Gefühl der Enttäuschung, als die Werte rund um Arbeit, mit denen sie im Sozialismus aufgewachsen waren, ihre Bedeutung verloren. Nach der Migration standen sie vor neuen Herausforderungen, darunter das Gefühl, nicht nur moralisch und wirtschaftlich entwertet zu sein, sondern auch „abgeschrieben“ und auf einen Zustand von „Abfall“ reduziert zu werden – behandelt als wären sie weniger wert als ein Mensch.
Eine Frau erinnerte sich lebhaft an ihren Wandel von der Leitung von Institutionen in Kasachstan zur Reinigung von Institutionen für andere in Deutschland. Sie sagte: „Ich wurde wie ein Pferd“ (loshad’ jest’, vot eto ja), die von „Reinigung zu Reinigung rennt“ (s puzalki na puzalku).
Wie gehen sie mit diesem Gefühl der Enttäuschung und mit der fehlenden Wertschätzung um? Welche Strategien haben sie?
Trotz vieler Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt und der körperlichen sowie seelischen Belastungen, die damit einhergehen, betonen Spätaussiedlerinnen weiterhin den Wert ihrer Arbeit in einer Gesellschaft, die sie oft als unzureichend wahrnimmt. Dafür greifen sie auf verschiedene Strategien zurück. Eine zentrale Herangehensweise ist ihre Bezugnahme auf die symbolische Bedeutung sozialistischer Arbeit als Vergleichsstrategie. Sie passen ihre Erfahrungen aus der sozialistischen Zeit an, um dominante, einkommensbasierte Narrative über den sozialen Wert von Arbeitenden herauszufordern und ihre eigene Resilienz und Anpassungsfähigkeit im deutschen Kontext zu behaupten.
Wie eine Frau es zusammenfasste: Aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Perestroika und der Bewältigung verschiedener Arbeitsformen hat sie sich schnell an die neuen Lebensformen in Deutschland angepasst und erklärte: „Ich bin wie ein Phönix, der immer wieder aus der Asche aufsteigt.“
Während viele Spätaussiedlerinnen eine Verbindung zu sozialistischen Werten und Arbeitsidealen ausdrückten, waren sie nicht blind für deren negativen Aspekte. Sie sprachen offen über die Herausforderungen, denen sie im Sozialismus gegenüberstanden, darunter hohe Arbeitsbelastungen und Geschlechterungleichheiten, bei denen sie sowohl berufliche als auch häusliche Verantwortung trugen.
In Deutschland jedoch werden diese früheren Erfahrungen der harten Arbeit in einem neuen Licht betrachtet. Frauen nutzen sie oft als Bewältigungsstrategie, um sich anzupassen und neue Identitäten in ihrem aktuellen Kontext aufzubauen. Manche glauben sogar, dass die Zwänge, denen sie im Sozialismus ausgesetzt waren, ihnen ein besseres Verständnis der „Spielregeln“ in der kapitalistischen Gesellschaft vermittelt haben – Regeln, die sie mittlerweile gelernt haben zu navigieren und zu bewältigen.
Doch obwohl viele Frauen ähnliche Geschichten über ihre Arbeit erzählten, wurden ihre Erinnerungen, Erfahrungen und Strategien zugleich von ihren individuellen Lebenswegen vor und nach der Migration geprägt. Diese Unterschiede hingen von Faktoren ab, wie zum Beispiel, ob sie in ländlichen oder städtischen Gegenden lebten, ihrer Familiensituation zu Hause und ihrem Bildungs- oder beruflichen Hintergrund. So spielten beispielsweise die Ereignisse in ihrem Zuhause und die Beziehungen zu Ehepartnern und Verwandten eine große Rolle.
Zu Sowjetzeiten war Arbeit verpflichtend, und Frauen waren durch ihre Arbeit in die Gesellschaft integriert. Dennoch hatten sie oft eine doppelte Rolle – sie galten sowohl als unverzichtbare Arbeitskräfte als auch als Verantwortliche für die Haushaltsführung. Diese Doppelfunktion machte sie zu „Arbeiter-Müttern“. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Migration nach Deutschland veränderten sich diese vielfältigen Rollen, und viele Frauen wurden in traditionelle Hausarbeitsaufgaben zurückgedrängt.
Du hast für deine Forschung gezielt mit Frauen gesprochen. Welche Rolle spielt denn Geschlecht oder Gender dabei?
Geschlecht spielt eine wichtige Rolle, nicht nur, weil es jeden Bereich des sozialen und kulturellen Lebens beeinflusst, sondern auch, weil es mit vielen Formen von Ungleichheit und Ausgrenzung verbunden ist. Traditionelle Geschlechterrollen sind nach wie vor weit verbreitet, wobei Frauen den Großteil der Verantwortung für die Kindererziehung, die Pflege älterer Menschen und die Hausarbeit übernehmen. Für Spätaussiedlerinnen verschärfen diese Aufgaben die Schwierigkeiten, eine sinnvolle Beschäftigung zu finden und mit Unsicherheiten sowie mangelnder Anerkennung auf dem deutschen Arbeitsmarkt umzugehen.
Zu Sowjetzeiten war Arbeit verpflichtend, und Frauen waren durch ihre Arbeit in die Gesellschaft integriert. Dennoch hatten sie oft eine doppelte Rolle – sie galten sowohl als unverzichtbare Arbeitskräfte als auch als Verantwortliche für die Haushaltsführung. Diese Doppelfunktion machte sie zu „Arbeiter-Müttern“. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Migration nach Deutschland veränderten sich diese vielfältigen Rollen, und viele Frauen wurden in traditionelle Hausarbeitsaufgaben zurückgedrängt.
Darüber hinaus wurde in Deutschland das Versprechen stabiler Arbeit oft durch prekäre, unsichere Jobs ersetzt. Dies hat viele Frauen in eine Situation gebracht, in der sie sowohl in ihrer Rolle als Hausfrauen als auch als Arbeitskräfte unterbewertet sind.
Vielen Dank für die Einblicke in deine Forschung und für das Gespräch.
Das Interview führte Friederike Raiser.
Foto: privat
Über Alina Jašina-Schäfer
Alina Jašina-Schäfer ist Dozentin für Kulturwissenschaften/Europäische Ethnologie an der Universität Mainz. Ihre aktuelle Forschung befasst sich mit menschlichem Wert und Arbeitskulturen im Migrationskontext, insbesondere in Deutschland. Zentral ist dabei die Frage, wie Rassifizierung und Hierarchien der Europäizität mit individuellen Erfahrungen und dem Gefühl von Zugehörigkeit verflochten sind.
Du würdest gerne mehr zum Thema Identitäten erfahren? Hier findest du weitere Beiträge dazu.
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