Interview

O[s]tklick Diskussion: „Migrationshintergrund“

Jahrelang wurde der Begriff “Migrationshintergrund” benutzt, um auszudrücken, dass jemand nicht “ganz” Deutsch ist. Seit einiger Zeit gerät er vermehrt in Kritik: Zu kompliziert, zu ungenau, sagt die Wissenschaftlerin Dr. Linda Supik. Edwin Warkentin, Kulturreferent für Russlanddeutsche, meint: Mit dem “Migrationshintergrund” können sich Spätaussiedler:innen nicht identifizieren. Im Ostklick-Gespräch diskutieren sie zusammen, welche Lösungsmöglichkeiten es gibt.

Dr. Linda Supik lebt und arbeitet als freischaffende Soziologin in Münster. Sie beschäftigt sich mit Kultur- und Rassismustheorie, Intersektionalität und Diskriminierung. Außerdem ist sie Mitglied im Rat für Migration (RfM).

Edwin Warkentin leitet seit 2017 das Kulturreferat für Russlanddeutsche am Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold. Zuvor hat er Osteuropageschichte, Philologie und Politik studiert und unter anderem als Referent des Bundesaussiedlerbeauftragten gearbeitet.

 

Frau Dr. Supik, Herr Warkentin – die Wurzeln Ihrer jeweiligen Familien liegen nicht in Deutschland. Sie, Herr Warkentin, kamen als Jugendlicher mit Ihrer Familie als Spätaussiedler aus Kasachstan nach Deutschland. Und Ihr Vater, Frau Dr. Supik, wurde in Tschechien geboren. Wenn Sie beide danach gefragt werden, woher Sie und Ihre Familie kommen – wie antworten Sie dann?

Supik: Das werde ich so gut wie nie gefragt, mein Name provoziert nicht solche Fragen. Manchmal finde ich das schade. Wenn es kurz gehen soll, dann sage ich: Ich bin Deutsche. Aber ich könnte auch sagen, dass die Familie meines Vaters aus der Tschechoslowakei stammt und eine sehr facettenreiche Identitätsgeschichte hat. Die Familienmitglieder identifizieren sich teils als tschechisch, teils als deutsch. Meine Familie mütterlicherseits war schon immer deutsch, auch mit nationalsozialistischer Vergangenheit. Ich habe demnach sowohl deutsche als auch Einwanderungsbezüge. 

Warkentin: Bei mir kommt es auf den Kontext an. Natürlich bin ich Deutscher, in Hinsicht auf meine Staatsbürgerschaft wie auch auf meine kulturelle Prägung. Wenn mich jemand fragt, woher ich stamme, dann antworte ich mit: „Aus der Sowjetunion“. Ich mache damit deutlich, dass ich gemeinsam mit meiner Familie als Teil einer deutschen Minderheit die Migration aus Kasachstan auf mich genommen habe, um hier in Deutschland als gleichwertiger Mitbürger leben zu können. Wir Spätaussiedler:innen mussten übrigens als einzige Menschen, die nach Deutschland kamen, nachweisen, dass wir Angehörige der deutschen Kulturnation sind. 

Sie beide haben – bewusst oder unbewusst – das Wort „Migrationshintergrund“ nicht ein einziges Mal benutzt. Diesen besitzt laut Definition des Statistischen Bundesamtes eine Person dann, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt. Das trifft auf Sie beide zu.

Supik: Sie haben ja nach meiner Herkunft gefragt. Der „Migrationshintergrund“ ist kein Ort, er ist lediglich der Verweis darauf, dass jemand aus der Familie irgendwann eingewandert ist. Der Begriff sagt aber nichts über diese Einwanderung aus, sondern dreht sich um die Staatsangehörigkeit bei der Geburt. Es ist eine komplizierte Definition. Manche identifizieren sich bewusst mit diesem Begriff, aber aus meiner Sicht ist das eine amtliche Kategorie und keine Selbstbeschreibung. Dafür ist der Begriff viel zu ungenau. Ich würde mich selbst als Einwanderertochter beschreiben, weil dann auch deutlich wird, dass ich zur zweiten Generation dazugehöre. 

Warkentin: Das sehe ich genauso. Der Begriff ist eine statistische Kategorie, ihr gegenüber stehen viele differenzierte Identitäten, die nicht allein mit dem „Migrationshintergrund“ beschrieben werden können. Außerdem hat er für die meisten Menschen eine stigmatisierende Bedeutung. Um ein Gespräch über meine Herkunft auf Augenhöhe zu behalten, würde ich daher erstmal sagen: „Ich bin so einer wie du.“ Ich würde nicht so eine Kategorie wählen, die mich „anders“ macht. 

Der Begriff „Migrationshintergrund“ wurde 2005 erstmals beim Mikrozensus eingeführt. Lange hat man nicht an ihm gerüttelt, seit einigen Jahren vermehrt sich aber die Kritik daran. Wie hat sich die Rolle des „Migrationshintergrundes“ aus Ihrer Sicht über die Jahre verändert, auch in Ihrer jeweiligen Arbeit?

Supik: Als der Begriff auftauchte, war ich gerade mit meinem Studium fertig. 2006 kam ein Bildungsbericht der Bundesregierung raus, darin war öfter die Rede von „Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund“. Ich fand das spannend, weil eine neue Schublade mit ganz neuen Definitionen geöffnet wurde. Aber ich stellte dann schnell fest, dass der „Migrationshintergrund“ gesellschaftlich anders verstanden wurde als in der Wissenschaft. Da wurde der Begriff als Synonym für „Ausländer“ aufgefasst. Dabei sollten zu dieser Kategorie Ausländer zählen wie auch deutsche Staatsangehörige, die selbst eingewandert sind oder mindestens ein Elternteil haben, welches eingewandert ist. Bis heute, fast 20 Jahre später, wird der Begriff aber weiterhin mit „Ausländer“ gleichgesetzt – es ist eine Ausgrenzungskategorie, sie markiert Nicht-Zugehörigkeit. Der „Migrationshintergrund“ verfehlte also das ursprüngliche Ziel, wenngleich es nicht so leicht zu definieren ist, was die eigentliche Motivation war. Eins hatte wohl eine Rolle gespielt: das Bildungswesen. Dort hatte man das Gefühl, dass man nicht nur auf die ausländischen Kinder genauer gucken sollte, sondern auch auf die Spätaussiedler, die sich im Schulsystem zurechtfinden mussten. 

Ich merkte einerseits das Unbehagen einiger Verbände, sich mit dem „Migrationshintergrund“ zu identifizieren. Andererseits tauchten erstmals Studien auf, die die erfolgreiche Integration von Spätaussiedler:innen qualitativ nachweisen konnten. Ich denke da etwa an die Studie namens „Ungenutzte Potenziale“ des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Das half mir in meiner Arbeit dabei, der Öffentlichkeit zeigen zu können: Diese Menschen haben sich gut integriert. Die alten Stereotype von kriminellen Jugendlichen und der russischen Mafia rückten plötzlich in den Hintergrund.

Warkentin: Ich war damals genau so ein Abiturient mit Aussiedlergeschichte, der sich durch das Schulleben durchgeschlagen hatte. Als dieser Prozess einsetzte, Menschen mit „Migrationshintergrund“ ebenfalls zu erfassen und zu fördern, war es eigentlich bereits zu spät. Mitte und Ende der 2000er Jahre war diese Frage nicht mehr so relevant in Bezug auf die Spätaussiedler:innen. Die große Welle fand Mitte der 90er Jahre statt, als die Jugendlichen in die Schulen kamen. Die Förderungsmaßnahmen unterschieden sich stark je nach Bundesland, es gab keine zentralen Ansätze. Als der „Migrationshintergrund“ eingeführt wurde, war das zumindest nach Empfinden der Spätaussiedler:innen nicht mehr relevant. Viele Verbände und Akteure haben sich nicht angesprochen gefühlt. Die Motivation, nach Deutschland zu kommen, war ja gerade der Wunsch danach gewesen, hier als vollwertige Mitglieder aufgenommen zu werden. Und dann wurden sie plötzlich als „Menschen mit Migrationshintergrund“ betitelt. Das wurde – wie Sie bereits erwähnt haben, Frau Dr. Supik – in der Gesellschaft allerdings gleichgesetzt mit dem Begriff des „Ausländers“. Dabei hat das eine mit dem anderen nichts zu tun, das merkt man auch politisch. Die Integrationsbeauftragte sitzt im Kanzleramt, für Zuständigkeiten der Aussiedler:innen ist das Innenministerium verantwortlich. Bis heute entwickeln sich die verschiedenen Diskurse rund um diesen Begriff daher in verschiedene Richtungen. Beruflich setzte ich mich erstmals mit dieser Problematik auseinander, als ich 2010 begann, für den damaligen Bundesaussiedlerbeauftragten zu arbeiten. Ich merkte einerseits das Unbehagen einiger Verbände, sich mit dem „Migrationshintergrund“ zu identifizieren. Andererseits tauchten erstmals Studien auf, die die erfolgreiche Integration von Spätaussiedler:innen qualitativ nachweisen konnten. Ich denke da etwa an die Studie namens „Ungenutzte Potenziale“ des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Das half mir in meiner Arbeit dabei, der Öffentlichkeit zeigen zu können: Diese Menschen haben sich gut integriert. Die alten Stereotype von kriminellen Jugendlichen und der russischen Mafia rückten plötzlich in den Hintergrund. Jetzt arbeite ich in der Kulturvermittlung, da helfen mir die Diskussionen rund um die „Migrationsgesellschaft“ ebenfalls bei der Arbeit. Zum Beispiel, um Parallelen aufzuzeigen zwischen der hier sozialisierten Russlanddeutschen und den Nachkommen von Gastarbeiter:innen.

Sie haben also in Ihrer Arbeit beobachtet, dass der „Migrationshintergrund“ bestimmte Debatten angestoßen und somit auch Positives bewirkt hat. Frau Dr. Supik, warum ist es trotzdem wichtig, jetzt den Begriff neu zu denken?

Supik: Wir müssen uns immer wieder fragen: Haben wir noch die richtigen Bezeichnungen für die Leute, um die es hier geht? Die Gesellschaft verändert sich, es entstehen neue Communities. Im Rat für Migration hat meine Kollegin Anne-Kathrin Will einen Vorschlag präsentiert, dem ich und andere Mitglieder zugestimmt haben, nämlich: Lasst uns von Einwanderern sprechen, wenn wir ausdrücklich die Menschen meinen, die nach Deutschland immigriert sind. Demnach wäre Herr Warkentin ein Einwanderer, aber ich nicht. Es ist uns ja allen klar, dass man einem Menschen nicht ansieht, ob er ein Einwander:in ist oder nicht. Man hört es auch nicht am Akzent raus, beziehungsweise kann jemand ein Einwanderer:in sein, obwohl er akzentfrei spricht. 

Warkentin: Ich meine das nicht als Kritik, aber ich habe eine Frage. Warum wäre es für Sie so wichtig, bei einer Person wie mir von einem Einwanderer:in zu sprechen? 

Für die Migrationsforschung ist es wichtig, sagen zu können, wie viele Menschen jährlich eingewandert sind, und wie groß die Anzahl von eingewanderten Menschen hier in Deutschland allgemein ist. Die Kategorie „Einwandernde“ sollte wertfrei sein. Eingewanderte sind nicht in Deutschland geboren – mehr sagt der Begriff nicht aus. 

Supik: Das wurde auch bei uns im Rat diskutiert. Für die Migrationsforschung ist es wichtig, sagen zu können, wie viele Menschen jährlich eingewandert sind, und wie groß die Anzahl von eingewanderten Menschen hier in Deutschland allgemein ist. Die Kategorie „Einwandernde“ sollte wertfrei sein. Eingewanderte sind nicht in Deutschland geboren – mehr sagt der Begriff nicht aus. 

Warkentin: Ich glaube, es wird trotzdem immer die Gefahr bestehen, dass jeder Begriff, den wir uns für eine bestimmte Gruppe von Menschen in diesem Bereich ausdenken, in der Gesellschaft problemorientiert behandelt wird. Es ist gut, dass sich Statistiker und Wissenschaftler neutral mit dieser Frage beschäftigen. Aber ein Begriff, der die Nicht-Zugehörigkeit von Menschen beschreibt, wird in der Öffentlichkeit immer negativ konnotiert sein. Ich denke an das diesjährige Sommerloch-Thema: Jugendliche mit Migrationshintergrund in Freibädern. Ich saß in unserem Freibad in Detmold, hier in der Region gibt es einen sehr hohen Anteil an Aussiedlern. Dieses Freibad war voll von Menschen mit Migrationshintergrund, aber es gab keine Probleme. In bestimmten Milieus in Berlin und anderen Großstädten gab es Schwierigkeiten, aber das lag an diesen Milieus, nicht an der Herkunft der Menschen. Ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen, aber in einer deutschen Familie, ich wurde deutsch sozialisiert. Anders habe ich mich nie identifiziert. Aber ich werde aufgrund meines Migrationshintergrundes in eine bestimmte Fremdheitskategorie reingeschoben. Ich kann gut damit umgehen, aber viele Menschen haben ein Problem damit. Ich finde es daher gut, dass es Kritik daran gibt, von Kindern mit Migrationshintergrund zu sprechen, wenn ein Elternteil deutsch ist. Das fühlt sich für einige diskriminierend an. 

Ich glaube, es wird trotzdem immer die Gefahr bestehen, dass jeder Begriff, den wir uns für eine bestimmte Gruppe von Menschen in diesem Bereich ausdenken, in der Gesellschaft problemorientiert behandelt wird. Es ist gut, dass sich Statistiker:innen und Wissenschaftler:innen neutral mit dieser Frage beschäftigen. Aber ein Begriff, der die Nicht-Zugehörigkeit von Menschen beschreibt, wird in der Öffentlichkeit immer negativ konnotiert sein.

Supik: Die türkische Gemeinde in Deutschland ärgert sich ebenfalls darüber, dass der „Migrationshintergrund“ immer mit Problemen und Stereotypen, wie etwa schlechter Bildung, in Verbindung gebracht wird. Natürlich gibt es einige Kinder aus türkischen Familien, die Schwierigkeiten in der Schule haben. Aber solche stigmatisierenden Begriffe vergrößern das Problem nur noch mehr. In der Gesellschaft existieren gegensätzliche Entwicklungen. Einerseits gibt es ein größeres Selbstbewusstsein innerhalb der verschiedenen Communities, es gibt zahlreiche Kulturveranstaltungen, das „Deutschsein“ wird ganz unterschiedlich definiert. Andererseits gucken bis heute viele Deutsche mit großen Augen, wenn jemand sagt: „Ich komme aus Kasachstan.“ Oder aus Kirgisistan wie bei meinem Kollegen letztens. Der hat sich fast dafür entschuldigt, dass er von dort stammt, weil das niemand kannte. Und erst recht nicht verstand, dass er deutsche Wurzeln hat. 

Warkentin: Das sind die realen Erfahrungen der Menschen. Viele haben sich jahrzehntelang dafür geschämt, dass sie einen „Hintergrund“ haben. Am liebsten hätten sie gar keinen. Es würde unserer Gesellschaft guttun, wenn wir entspannter über diese Begriffe und Probleme reden würden. Deutschland möchte immer als Vorbild in der Welt gelten, aber in dieser Frage könnte das Land deutlich mehr Selbstbewusstsein entwickeln. Unsere Gesellschaft hat das Potenzial dazu. Wenn es später irgendwann um den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg gehen wird, dann hoffe ich, dass unsere Behörden und Organisationen sich nach diesen Potenzialen umschauen werden. Ich habe es ja letztes Jahr beobachtet, als die ersten Geflüchteten aus der Ukraine nach Deutschland kamen. Wer stand denn an den Bahnhöfen und nahm die Ankommenden an die Hand, um sie zur nächsten Beratungsstelle zu bringen? Wer hat sie zu Ärzt:innen und Ämtern begleitet? Das waren oft Spätaussiedler und ihre Kinder. In den Medien wurde das nicht thematisiert. Als ich letztes Jahr von Medien kontaktiert wurde bezüglich des Krieges, wurde ich erstmal gefragt: „Warum sind denn die Russlanddeutschen alle für Putin?“ Ich fand das so schade, mich hat es auch geärgert. Ich habe dann versucht, zu erklären, welche neue Willkommenskultur durch die Menschen entstanden ist. Deutschland ist vielfältiger und interessanter geworden. 

Sie haben gerade angesprochen, dass Deutschland ein Vorbild in der Frage sein könnte. Hier in Europa gibt es Länder, die anders mit dem Thema umgehen, vielleicht auch besser. In Polen und Großbritannien etwa wird lediglich registriert, wer selbst eingewandert ist – ähnlich dem Vorschlag von Frau Dr. Supiks Kollegin. Im Zensus können die Menschen dann selbst entscheiden, zu welchen Ethnien oder Nationen sie sich zugehörig fühlen.

Supik: Dieses Thema hat mit der Frage zu tun, wie man Diskriminierungen sicht- und messbar macht, ich beschäftige mich in meiner Forschung viel damit. Russlanddeutsche und Aussiedler:innen erleben in Deutschland Diskriminierungen, ich kann das definitiv für meinen Vater sagen. Mit dem „Migrationshintergrund“ kann man so etwas nicht messen, das ist eine Catch-all-Kategorie. Um gleichberechtigte Teilnahme in der Gesellschaft zu schaffen, wäre es wichtig, solche Daten zu sammeln. Das könnte man beispielsweise machen, indem man die Leute fragt: „Werden Sie hier in Deutschland als fremd, nicht-weiß wahrgenommen? Ja oder Nein.“ Gleichzeitig sollte man fragen: „Wie sehen Sie sich selbst?“ Genauso wie bei unserer Einstiegsfrage. 

Mit dem „Migrationshintergrund“ kann man so etwas nicht messen, das ist eine Catch-all-Kategorie. Um gleichberechtigte Teilnahme in der Gesellschaft zu schaffen, wäre es wichtig, solche Daten zu sammeln. Das könnte man beispielsweise machen, indem man die Leute fragt: „Werden Sie hier in Deutschland als fremd, nicht-weiß wahrgenommen? Ja oder Nein.“ Gleichzeitig sollte man fragen: „Wie sehen Sie sich selbst?“

Warkentin: Das ist ein sehr interessanter Ansatz. Großbritannien und andere Länder haben natürlich andere Erfahrungen, auch, weil sie früher Kolonialmächte waren. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem französischen Kollegen aus der Studienzeit, das war zur Zeit der Fußball WM 2002. Ich sagte damals, dass im französischen Team viele Nordafrikaner und Algerier seien. Er entgegnete, er wisse nicht, was ich meine. „Na, Zinédine Zidane!“, sagte ich. Und er meinte nur: „Nö, das ist ein Franzose.“ Damals wurde mir deutlich, dass es in Frankreich ein ganz anderes Verständnis zum „Migrationshintergrund“ gibt als hier in Deutschland. Die Frage nach dem eigenen Zugehörigkeitsgefühl finde ich sehr gut. Dann würden wir differenziertere Antworten erhalten als jetzt. 

Auf Social Media oder in Gesprächen mit jungen Menschen kann man beobachten, dass die Begriffe „Migrationshintergrund“, „Migrant:in“ oder „Ausländer“ manchmal überhaupt nicht negativ verstanden werden – im Gegenteil, die Leute nehmen die Wörter für sich ein und identifizieren sich bewusst mit ihnen. Dabei hat diese zweite oder gar dritte Generation von Einwandernden meist kaum noch einen Bezug zu ihrem Herkunftsland.

Supik: Kolleg:innen vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung haben letztes Jahr die Studie „Rassistische Realitäten“ veröffentlicht. Den Teilnehmenden wurde die Frage gestellt, wie sie sich selbst ethnokulturell beschreiben würden. Tatsächlich tauchte auch dort immer wieder die Antwort auf: „Ich bin Ausländer.“ Ich finde das tragisch, weil ich weiß, wie solche Labels entstanden sind und wie die Gesellschaft diese Worte benutzt hat. Ich würde gern wissen, ob darin auch eine Provokation steckt, eine trotzige „Jetzt erst recht“-Haltung. Ich kann es mir schwer vorstellen, dass das jemand wirklich positiv meint. 

Warkentin: Ich glaube, während verschiedener Lebensphasen ändern sich solche Selbstzuschreibungen auch. Im jungen Alter will man die Welt entdecken, man hält an diesen Identitäten fest, die weit entfernt ihre Herkunft haben. Später legt sich das vielleicht wieder. Aber diese Frage hat auch mit dem Milieu zu tun. In einem Bildungsmilieu wird es vielleicht weniger den Fokus auf ethnokulturelle Identitäten geben, in religiösen Communities ebenso. Ich kenne Russlanddeutsche, die sich vordergründig als Christ:innen identifizieren und weniger als Menschen aus einem postsowjetischen Land. 

Greift Ihre Erklärung bezüglich den Selbstzuschreibungen junger Menschen nicht etwas kurz? Wenn diese Leute Diskriminierungen erleben, prägt sie das tiefergehend. Dann bleibt dieses Gefühl, nicht dazuzugehören, nicht akzeptiert zu werden, vielleicht ein Leben lang.

Warkentin: Deswegen ist es so wichtig, den „Migrationshintergrund“ nicht mehr auf die zweite Generation zu beziehen. Der Begriff wurde ursprünglich eingeführt, um Integrationsprobleme zu bewältigen. In der zweiten Generation ist das nicht mehr so relevant, auch wenn es in einzelnen Milieus Nachholbedarf gibt. Aber dann sollten solche Diskussionen eben milieuspezifischer stattfinden und nicht mehr pauschal. Der Sachverständigenrat für Integration und Migration hat letztes Jahr eine Studie herausgebracht, in der festgestellt wird, dass es keine großen Bildungsunterschiede gibt zwischen Menschen mit und ohne Spätaussiedler:inhintergrund. Im Gegenteil, in bestimmten Communities gibt es den Druck, besonders eifrig und erfolgreich zu sein. 

Deswegen ist es so wichtig, den „Migrationshintergrund“ nicht mehr auf die zweite Generation zu beziehen. Der Begriff wurde ursprünglich eingeführt, um Integrationsprobleme zu bewältigen. In der zweiten Generation ist das nicht mehr so relevant, auch wenn es in einzelnen Milieus Nachholbedarf gibt. Aber dann sollten solche Diskussionen eben milieuspezifischer stattfinden und nicht mehr pauschal.

Supik: Ich nenne diesen Druck das „Helene-Fischer-Syndrom“. Aber ich würde noch gern kurz auf das Thema Rassismus gegen Osteuropäerinnen und Osteuropäer zurückkommen. Ich habe eine Kollegin, die in Polen geboren wurde und kurz nach der Einschulung mit ihrer Familie nach Deutschland kam. Heute arbeitet sie als Sozialwissenschaftlerin an einer Uni. Sie beschäftigt sich unter anderem damit, dass Osteuropäer:innen nicht als „richtig weiß“ angesehen werden und daher Rassismus erleben. 

Warkentin: Ich würde sogar sagen, dass es hier auch eine besondere Art von Sexismus gibt. Osteuropäische Frauen werden sexualisiert betrachtet. Bei Männern gibt es eine andere Dimension. Da gibt es das Klischee des trinkenden, Drogen nehmenden Kriminellen. Solche Stereotype wurden über Jahrzehnte hinweg kultiviert, manche sogar über Jahrhunderte, und dann gegen Aussiedler:innen benutzt. Solche Probleme wurden die letzten Jahrzehnte lang ausgeklammert, sowohl in der Forschung als auch in postmigrantischen Debatten. Wir haben dahingehend noch viel Nachholbedarf. 

Supik: Das sehe ich ganz genauso. Es ist wichtig, die Perspektive der Spätaussiedler:in und von Menschen in Deutschland, deren Familien in Mittel- und Osteuropa leben oder lebten, in die Diskussionen einfließen zu lassen, weil es nicht so einfach ist, nach „weiß“ oder „nicht-weiß“, „Deutsch“ oder „nicht-Deutsch“ zu unterscheiden. 

Warkentin: Natürlich ist es herausfordernd, das als Rassismus zu bezeichnen. Hier muss es auch eine Begriffsdebatte geben. Die Geschichte der Spätaussiedler:in wird oft durch ihre Traumata, ihre Opfer erzählt. Dabei könnte man an einer gemeinsamen Aufarbeitungskultur arbeiten, zum Beispiel im Bereich der SED-Diktatur, also des Stalinismus in Ostdeutschland. 

Es gibt viele Deutsche hier im Land, die nicht weiß oder anderweitig „typisch Deutsch“ sind, was bei manchen Leuten zum Gedanken führt: „Der sieht anders aus, der kann nicht von hier sein.“ Selbst, wenn sich Begriffe ändern, wenn Wissenschaft und Kulturarbeit schon weiter sind – bleibt es nicht dennoch eine Herausforderung, das Denken der Menschen zu verändern?

Warkentin: Das ist eine Frage von ein, zwei Jahrzehnten – zumindest hoffe ich das. Sobald es immer mehr Verbindungen zwischen Familien verschiedener Herkünfte geben wird, wird sich auch das Denken der Menschen ändern. In diesem Prozess befinden wir uns bereits. Die Nachkommen der Einwanderndengeneration werden die Entwicklungen der nächsten Jahre prägen. Dann erreichen wir irgendwann vielleicht ein entspannteres Verhältnis in Bezug auf Menschen, die von woanders kommen, oder „anders“ aussehen. 

Supik: Ich plädiere für Optimismus und Mut, die eigene Herkunftsgeschichte zu erzählen – und die Leute verwirrt gucken zu lassen. Nur so wird einem größeren Teil der Gesellschaft irgendwann klar, wie viele Deutsche eine Migrationsgeschichte haben. Ich weiß aber nicht, ob es reicht, wenn sich Familien mit unterschiedlichen Herkunftsgeschichten untereinander verheiraten und Kinder bekommen. Ich denke da zum Beispiel an meinen Vater und den tschechischen Teil der Familie. Die deutschen Familienmitglieder wissen fast nichts über diese Geschichte. So etwas kann sehr schnell untergehen. Integration verläuft nicht immer so geradlinig. 

Es ist darüber hinaus natürlich auch eine Aufgabe von Institutionen und Medien, diesen Umdenkungsprozess zu leiten.

Supik: Wir brauchen definitiv ein selbstbewusstes Auftreten in Bezug auf Herkünfte und Geschichten. Das Label „Migrationshintergrund“ ist gerade in der Medienberichterstattung ein vager, ungenauer Ausdruck. Daher ist es gut, dass die Medien in den letzten Jahren dafür sensibler geworden sind und neue Begriffe benutzen, wie zum Beispiel im Dossier der Neuen Deutschen Medienmacher. 

Warkentin: Ich finde es super, dass die Akteure der Neuen Deutschen Medienmacher so ein Dossier zusammengestellt haben. Aber ich denke, dass es keine bestimmte Verordnung von Organisationen geben sollte. Es ist die Aufgabe aller Bürger, in öffentlichen Diskursen diese Probleme kontextbezogen so gut wie möglich zu lösen. Ich finde den Vorschlag der Fachkommission Integrationsfähigkeit, von „Eingewanderten und ihren direkten Nachkommen“ zu sprechen, kaum praktikabel. Wie soll man so einen langen Begriff im Alltag nutzen? Die Menschen, die den „Migrationshintergrund“ negativ auffassen, werden das auch bei ähnlichen Begriffen tun. Das Klima für so ein Streitthema muss allgemein entspannter werden. 

Supik: Das stimmt, der Begriff „Eingewanderte und ihre direkten Nachkommen“ ist nicht zu Ende gedacht. Wie würde ich denn mich selbst beschreiben? Als „direkte Einwander-Nachkommin“? Das ist ja kein richtiges Wort. 

Warkentin: Ich habe vorhin nochmal nachgeschaut, das Statistische Bundesamt nutzt immer noch die alte Bezeichnung des „Migrationshintergrundes“. 

Supik: Aktuell werden dort beide Begriffe parallel verwendet. Dadurch wird es wieder unglaublich kompliziert. Ich sehe hier die Gefahr, dass wir mit so einem Bürokratie- und Rechnereideutsch dafür sorgen, dass man aneinander vorbeiredet. 

Warkentin: Wenn wir solche gesellschaftlichen Gruppen beschreiben wollen, dann wäre es sinnvoll, viel deutlicher die Herkunft zu benennen – zum Beispiel, indem wir vom Gastarbeiter:inhintergrund sprechen. Wenn wir auf die Gastarbeiter:innen oder Spätaussiedler:innen schauen, dann lassen sich diese Identitäten nicht ausreichend über das heutige Kasachstan oder die heutige Türkei verstehen. Die Menschen hier ticken doch nicht so und so, weil beispielsweise Erdogan diese und jene Rede gehalten hat. Wenn wir einen Begriff entwickeln wollen, dann müssen wir auf den genauen Umstand der Migration hier in Deutschland schauen – zum Beispiel in Bezug auf bestimmte Milieus, auf die einzelnen Probleme. Und man müsste viel stärker zwischen den Generationen unterscheiden. Die zweite Generation, die in Deutschland sozialisiert worden ist, tickt anders als die Generation der Einwanderer. 

Frau Dr. Supik, wären die Ideen von Herrn Warkentin in der Wissenschaft realisierbar?

Supik: Ich suche gar nicht nach dem einen Begriff. Unsere Gesellschaft ist so vielfältig, da braucht es differenzierte Bezeichnungen. In der Wissenschaft oder Kunst gibt es bereits viele Ideen dazu. Ich persönlich brauche Begriffe, um Diskriminierung messbar zu machen. Andere Wissenschaftler:innen brauchen andere Begriffe und Konzepte, solche Fragen hängen vom Kontext ab. Ich finde Ihren Vorschlag, Herr Warkentin, nach den unterschiedlichen Arbeitsmigrationen zu unterscheiden, interessant. Die Generation der sogenannten Gastarbeiter:innen kam zwischen den 1950er und 1970er Jahren nach Westdeutschland, in die DDR kamen die sogenannten Vertragsarbeitskräfte aus sozialistischen Bruderstaaten. Heute werden weiterhin Fachkräfte weltweit angeworben, etwa Pflegepersonal aus Brasilien. Im Fokus der medialen Aufmerksamkeit stehen sie gar nicht, dort sind Flucht und Asyl das beherrschende Thema. In meiner wissenschaftlichen und politischen Arbeit steht abermals eine andere Kategorie im Fokus, nämlich alle hier lebenden Menschen, die von Rassismus betroffen sind. Egal, ob sie Migrationshintergrund haben oder nicht.

Frau Dr. Supik, Herr Warkentin, vielen Dank für das Gespräch!

 

Maria Mitrov ist Studentin an der deutschen Journalist:innenschule und schreibt als freie Autorin, unter anderem für die ZEIT oder die taz.

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