Die Frage, was an mir jüdisch ist, verwirrt mich immer wieder. Ehrlich gesagt, kann ich sie spontan nicht beantworten. Das ist eine sehr heikle Angelegenheit. Gewiss erinnere ich mich an die Gebete in der mysteriösen alten hebräischen Sprache, die mir an der einzigen jüdischen Schule der ukrainischen Stadt Tschernihiw beigebracht wurden. Aber haben mich die auswendig gelernten Gebete zu einem Juden gemacht? Nö, ich habe mein Jüdischsein schon davor erkennen müssen.
Die Frage, was an mir jüdisch ist, verwirrt mich immer wieder. Ehrlich gesagt, kann ich sie spontan nicht beantworten.
Mein Jüdischsein sitzt tiefer. Es hat sozusagen etwas Ursprüngliches. Etwas, was sich in den Augen ablesen lässt. Wörtlich gesprochen. Schon als Kind hörte ich ständig: „Du hast so traurige jüdische Augen.“ Und meine Mutter hatte traurige jüdische Augen. Und ihre Mutter hatte ebenfalls traurige jüdische Augen. Und ich vermute, ihre Mutter hatte sie auch. Irgendwo in diesen traurigen Augen ist der Ursprung des Jüdischseins meiner Familie. Ich weiß nicht genau, woran diese Traurigkeit liegt, aber ich habe eine Vermutung.
Ein kleiner Mensch in Form eines noch identitätslosen Kindes lebt unter anderen kleinen Menschen in der ehemaligen UdSSR – spielt Fußball mit Blechdosen, lernt Straßensprache und klaut zusammen mit anderen kleinen identitätslosen Menschen Aprikosen aus Nachbars Garten – ein ganz normales armes, aber glückliches Leben.
Und dann kommt plötzlich die Stunde der Offenbarung: Beim kleinen Menschen wird Jüdischsein diagnostiziert. Ein Engel kommt vom Himmel herab, schlägt den kleinen Menschen auf sein Köpfchen und sagt: „Was guckst du so, du Jude?“. Und genau in diesem Moment werden die Augen des kleinen Menschen für immer traurig.
Genauso war es in meinem Leben: Vor der einzigen jüdischen Schule besuchte ich die einzige „russische Schule“ der ukrainischen Stadt Tschernihiw. Dort erschien mein Engel mit himbeerroten Flügeln: Mein Klassenkamerad Sascha. Er hat von seinem Vater ein himbeerrotes Sakko bekommen, sowas trugen damals die russischen Mafiosi der 90er Jahre. Das himbeerrote Sakko signalisierte Zugehörigkeit zum „neuen Russentum“ und ständige Bereitschaft zur grundlosen Gewalt.
Sascha beäugte mich lange Zeit sehr misstrauisch. Und dann, eines Tages in der Umkleidekabine vor dem Sportunterricht, segnete mich Sascha mit einem Stuhl auf die Birne und schrie: „Was guckst du so, du Jude?“. Von da an wurde es zur Tradition: Sascha führte meine Konversion zum Judentum mit ultraorthodoxem Fanatismus durch: Er rief „Jude! Jude! Jude! Jude!“ und schlug mich mit seinen Fäustchen. Ich schlug mit meinen Fäustchen oder verschiedenen Gegenständen zurück, um meine Ablehnung auszudrücken: „Ich bin kein Jude!“. Eines Tages gab ich aber nach: „Okay – ich bin Jude“. Sofort verlor Sascha jegliches Interesse an Gewalt. Wir wurden sogar eine Zeit lang Freunde. Er wurde ernsthaft krank und kam ins Krankenhaus. Mir tat er leid, ich gab meine gesamten Ersparnisse für zwei Orangen aus und brachte sie dem kranken Sascha. Er war gerührt und sagte: „Du bist eigentlich ganz normal, obwohl du Jude bist.“
„Normal, obwohl Jude“ - Diese Formel begleitet mich mein ganzes bewusstes Leben lang.
„Normal, obwohl Jude“ – Diese Formel begleitet mich mein ganzes bewusstes Leben lang: Ja, seitdem tue ich immer so, als wäre ich normal. Juden müssen es ständig beweisen. Sie werden immer und überall misstrauisch beäugt: von Freunden, Klassenkameraden, nicht-jüdischen Verwandten und sogar von UN-Generalsekretären.
Der himbeerrote Sascha und ich, der eigentlich normale Jude, waren die ganze 5. Klasse über befreundet. Aber in der 6. Klasse fing er wieder an, mich misstrauisch zu beäugen. Eines Tages überwältigte ihn sein himbeerrotes Gewissen und er sagte mir: „Du bist zwar normal, aber du bist doch noch ein Jude…“. Und alles fing wieder von vorne an.
Yuriy Krotov kam 2003 aus der ukrainischen Stadt Tschernihiw als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland, studierte Philologie und engagiert sich in der interkulturellen politischen Bildung. Er leitet die Organisation Makosa e.V. in Köln und ist Geschäftsführer der BAMgA – Bundesallianz der MOs gegen Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit e.V. Er schreibt Kolumnen über das jüdische Leben für diverse Medien und engagiert sich in der Redaktion der Zeitschrift der Jüdischen Kultus-Gemeinde Essen – „JEZ“.
Der Text erschien zuerst als Hörstück bei Deutschlandfunk Kultur.
Foto: Johannes Pol
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