Die ersten Begegnungen am Campus in Nürnberg - Du auch?
Akademie der Bildenden Künste Nürnberg – zwei Studentinnen, die sich noch nicht so gut kennen, unterhalten sich über dem Mittagessen und stellen eine Gemeinsamkeit fest – sie sind beide mehrsprachig aufgewachsen. Mit Russisch zu Hause und Deutsch in der Schule. Sie tauschen sich aus über Anekdoten aus der Familie, endlich versteht sie jemand – welche Serien man als Kind geschaut hat, was man zu Hause am liebsten isst, welche popkulturellen Referenzen man kennt. Man stellt fest – die eine Studentin ist aus einer Familie von Russlanddeutschen/Spätaussiedlern, die andere – aus einer Familie jüdischer Kontingentflüchtlinge. Man fühlt sich verbunden und neugierig und man sagt sich „Es gibt ja noch ein paar russischsprachige hier, wäre ein gemeinsames Projekt nicht eine coole Idee?“
Ein paar Semester später und in einer anderen Ecke der Akademie finden sich wieder ein paar Studenten zusammen und durchleben dieselbe Geschichte – was, du sprichst auch Russisch? Wie kommt es? Du kennst das auch? Lief bei euch auch … immer im Fernseher? Haben deine Eltern auch …? Fühlst du dich auch manchmal komisch, wenn …?
Im Sommer 2024 entsteht also eine Gruppe aus sieben Studenten mit unterschiedlichen, postsowjetischen Hintergründen. Aus ersten Begegnungen wurden regelmäßige Zusammenkünfte: Soap, Kirill, Kati, Evelyn, Surshenko, Gleb und Elena nannten sich bald das „Semetchki Kollektiv“. Jeder bringt etwas zu essen mit, gerne etwas, was man von zu Hause kennt und teilen möchte und auf ganz organische Weise kamen so Speisen auf den Tisch, die die hybride Form der Gruppe im Essen widerspiegeln: Von Sonnenblumenkernen zum Knacken, über vegane Formen der klassischen Salate, die man von den Festtagstischen in der Familie gerne isst, zu Hummus, Frischkäse, Chips, Softdrinks, Brot, eigene Lieblingsgerichte und unbedingt Tee mit Bubliki, Syrochki oder Prjaniki. Der gedeckte Tisch spiegelt die Gruppe wider – experimentell, offen für Neues und respektvoll gegenüber den Aspekten, die sie von ihren immigrierten Familien so schätzen und teilen wollen.






Aber wieso Semetchki?
Der Name des Künstler:innenkollektivs stammt vom russischen Wort für „Sonnenblumenkerne“ – Semetchki. In vielen postsowjetischen Kulturen ist das Knacken dieser Kerne ein alltägliches, verbindendes Ritual: Es steht für Gemeinschaft, Gespräche, Nähe und geteilte Erfahrungen. Genau dieses Bild greift das Kollektiv auf – nicht nur als Symbol für ein kulturelles Erbe, sondern auch als Metapher für das eigene künstlerische Selbstverständnis.
Wie ein Kern, der Wurzeln schlägt, trägt auch das Kollektiv vielfältige postsowjetische Prägungen in sich – mit unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven. Und ähnlich wie das Bild des Kernes voller Potenzial, das zur Sonnenblume heranwächst, will das Kollektiv wachsen, sich entfalten und entwickeln.
Und ziemlich schnell entwickelte sich ein Konzept für eine Ausstellung. Thematisch soll es um die künstlerische Aufarbeitung der individuellen Erfahrungen ihrer eigenen Immigration oder die der Familie aus dem postsowjetischen Raum gehen. Gemeinsam entschieden sie sich für die Räumlichkeiten der Akademie Galerie in Nürnberg, die am Hauptmarkt liegt – einem zentralen Ort, der stark von internationalemTourismus geprägt ist.
So wurden in den kommenden Monaten in regelmäßigen Treffen die künstlerischen Arbeiten geplant und besprochen, das Gesamtkonzept der Ausstellung, wie sie sich nach außen präsentieren wollen, etc. Man lernt sich immer mehr kennen. Aus der ersten Gemeinsamkeit – der Muttersprache – bildete sich ein tieferes Verständnis und Respekt füreinander. Wir lernten die verschiedenen individuellen Familiengeschichten, die traumatischen, sowie die hoffnungsvollen und die humorvollen Bräuche und Traditionen zu Hause kennen. Zusammen schauten wir uns bei den Treffen andere künstlerische Positionen an, die sich mit der Thematik beschäftigen.






Durch den Austausch wurde man angeregt, sich auch mal selbst damit mehr zu befassen: Sich mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen, bei der Familie mal nachzufragen und im Kollektiv die Wörter für eigene Gefühle und Erfahrungen zu finden. Fragen kamen auf – wie begreifen wir uns überhaupt? Inwiefern können wir uns als Gruppe verstehen? Wie kann man das nach außen kommunizieren? Eigene Familiengeschichten sowie interessante Bücher, Filme, Texte von anderen Positionen wurden herumgereicht und wuchsen zu einer Basis eines gemeinsamen Selbstverständnisses, welches vor allem aber von Zuhören und Offenheit geprägt war.
Ausstellung Semetchki
In der ersten gemeinsamen Ausstellung begegnet man komplett unterschiedlichen Ansätzen:
Der Animationsfilm „WolgaDeutsche“ von Surshenko, welche die Geschichte der wolgadeutschen Spätaussiedler in der Grafik eines alten Videospiels verarbeitet. Eine Geschichte, die von einem nie wirklich Ankommen, fremd in jedem Land sein, Frage von Heimat, Leid und Vertreibung geprägt ist.
Die Arbeit „(Russkaja) Schkola“ von Kati Schubin zeigt Heftseiten aus der „russischen Schule“. Eine Schule, die sie als Kind jeden Samstag neben der regulären deutschen Regelschule besuchte. Die Hefte vermitteln neben der schönen Handschrift, die zu erlernen war, Werte und Normen der Sowjetunion, der Disziplin, Leistung und dem Fleiß, der im Kontext einer Erinnerungskultur steht und zu Reibungspunkten und Anpassungsprozessen mit der deutschen Regelschule führt.
Kati Schubins zweite Arbeit „(Re-)Konstruierte Erinnerungen“ benutzt gesammelte, durch eigenhändig mit Brandmalerei bezeichnete Birkenrinde als lebendiges Trägermaterial kollektiver Erinnerungen, dem transgenerationalen Trauma der Russlanddeutschen, sowie der Sehnsucht nach Heimat. Das hängende Archiv ist ein Versuch, sowohl die fortwährende Belastung zu bewahren als auch neue Wege der Heilung zu finden.
Wie so eine Familiengeschichte aussehen kann, erforscht Gleb Ivankin in seinen zwei Arbeiten „Torgau Nortw st“: Ein Interview mit seiner Oma und eine Publikation mit Fotografien der Stadt Torgau. Als Kind besuchte er seine Oma, Urgroßmutter und Tante in Torgau. Jetzt, als Einwohner Deutschlands, versucht er, seine Erinnerungen wieder aufleben zu lassen.
Angelehnt an frühe slawische Kultstätten, in denen verzierte Baumstämme die Präsenz von Gottheiten markierten, eröffnet eine handgeschnitzte Arbeit von Soap einen zugleich neuen und urzeitlichen feministischen Aspekt. Der Titel „Triglava“ ergänzt den generisch maskulinen slawischen Begriff für eine dreiköpfige Gottheit um die feminine Endung „-a“ und verweist so auf eine Geschichte weiblicher Lebensrealitäten und Zyklen.








Im hinteren Bereich der Ausstellung, die durch einen weißen, semitransparenten Stoff vom vorderen Raum getrennt ist, finden die Besucher ein Kino vor. Eine Preview der Arbeit von Elena Horlau und dem Semetchki Kollektiv „Frohes Neues & S Nowym Godom“”, in der auf einer Millennium-Neujahrsfeier von 1999 auf 2000 in einer russischsprachigen Disco irgendwo in Deutschland neun Individuen aufeinandertreffen, darunter russische Spätaussiedler, jüdische Kontingentflüchtlinge und zwei Deutsche. In dieser besonderen Nacht prallen unterschiedliche Vorstellungen und Gefühle über das neue Leben in Deutschland auf explosive Weise aufeinander – doch ein unerwarteter Moment der Verbindung und die gemeinsame Feier des Jahrtausendwechsels lassen die Spannungen für einen Augenblick verblassen.
In der Videoarbeit „Sie nennen mich“ von Soap erkundet sie in intimen Details die dunkle Herkunft ihres Namens und den Ursprung des Schmerzes, der mit Femininität verbunden zu sein scheint – auf der Suche nach ihrem wahren Namen. Ihre Reise durch die eigene Ahnengeschichte ist durchzogen von Tränen, Traditionen und der Geborgenheit, die sie in matriarchalen Mythologien findet.
In Evelyn Markstädters Videoarbeit „Waldemar i Wladimir eto odno i tozhe“ wird Evelyns Familie vermutlich erstmals mit der Frage konfrontiert, wie und warum so viele Namen postsowjetische (Spät-)Aussiedler:innen – darunter auch sie – in den 90er/00er Jahren „eingedeutscht“ wurden. Die angepassten Namen ihrer Verwandten bekam Evelyn als Kind nur zufällig mit, was zu viel Verwirrung führte, denn darüber wurde nie gesprochen. Doch mit dieser angenommenen Nebensächlichkeit kommen zahlreiche Erfahrungen, die in dieser Arbeit geteilt werden. Daran schließt sich eine Kopie des Dokuments zur Namensänderung ihres Großvaters an, dessen Original im Bundesverwaltungsamt in Friedland archiviert ist. Da in Friedland das Zentrum für die Aufnahme von Spätaussiedler:innen ist, werden dort alle Dokumente dieser Art aufbewahrt.
Evelyn Markstädter präsentiert außerdem Fotografien: Die Fotoarbeit „kostjumchiki“ setzt sich mit der Wahrnehmung von Klischees und deren Einfluss auf das Selbstverständnis auseinander. Das russische Wort „костюм“ spielt mit der Doppeldeutigkeit von Kostüm und Anzug und beleuchtet die Spannung zwischen äußerer Darstellung und innerer Identität.
In der Fotoserie „kleine prazniki“ hält Evelyn Markstädter Momente „kleiner Feste“ fest – ein Zusammensein, in dem Traditionen, (Ess-)Gewohnheiten und Popkultur russlanddeutscher Familien weiterleben, sich verändern oder verblassen. Zumindest an solchen Tagen blüht vieles wieder auf, auch für jene, die im Alltag kaum noch damit in Berührung kommen, besonders für die in Deutschland geborenen Generationen. Doch was davon wollen wir bewahren, (wieder) neu entdecken, auslaufen lassen oder gar vergessen?
Kirill Nikulin setzt sich in seiner Arbeit mit seiner persönlichen Wahrnehmung sowie dem Verständnis seiner Identität, Familie und Kultur auseinander. Durch die Erarbeitung kleiner Teilwerke reflektiert er seine Gedanken, Gefühle und Erinnerungen, um diese neu für sich zu definieren und besser verstehen zu lernen.
Am Ausgang der Ausstellung findet man die Arbeit „Daddy Issues“ von Soap: In einer abgenutzten Netztasche liegen eine Glasflasche mit Milch und eine Packung Zigaretten mit russischem Schriftzug – Dinge, die wie aus einer vergangenen Zeit wirken. Die Milch, mit ihrer weiblichen Assoziation, steht für Fürsorge, während die Zigaretten auf Abhängigkeit und Selbstzerstörung verweisen. Beiläufig aufgehängt, verweist die Tasche auf eine unsichtbare Person, die sie vielleicht zurückgelassen hat.


Ein zentraler Punkt der Ausstellung war eine Wand mit der Frage „Was geben wir denen mit, die nach uns kommen?“. Diese lädt die Besucher dazu ein, ihre eigenen Gedanken zur Frage und zur Ausstellung mitzuteilen. Dies ist ein wichtiger Versuch, den Diskurs tatsächlich anzuregen und nicht nur einseitig zu kommunizieren. Die Antworten waren vielseitig – von kritischen Fragen zu Support und interessanten Gedanken. Somit konnten Besucher nicht nur verbal mit den Menschen in Kontakt treten, sondern auch darüber.
Gastfreundschaft wird im Kollektiv großgeschrieben. Es fängt schon damit an, dass die Kollektivmitglieder sich regelmäßig gegenseitig besuchen. Aber auch auf der Ausstellungseröffnung gab es über den üblichen Bier- und Weinausguss Tee, Plätzchen, Snacks und Getränke aus dem „Russischen Laden“ (ja, auch wenn dort Speisen aus dem ganzen „Ostblock“ zu finden sind, werden diese Läden meist als „russisch“ bezeichnet). Die mutigen Besucher haben sich durchprobiert, die zögernden blieben bei den ihnen bekannten Getränken und konzentrierten sich lieber auf die Kunst.
Zur Finissage war dann das große Kochen – auf Einladung des Kollektivs kamen unzählige Neugierige in die Ausstellung, die etwas umgeräumt wurde und in der man nun Wareniki zubereiten konnte. Auch dies eröffnete einen Rahmen für Austausch, gegenseitiges Kennenlernen, gemeinsames Kochen und Wertschätzung für die Kultur der Anderen.






Durch die intensive Auseinandersetzung mit den künstlerischen Positionen und der Entwicklung einer gemeinsamen Sprache und Online-Präsenz nach außen haben wir uns auch in einem gesellschaftlichen Diskurs wiedergefunden, der nicht aktueller sein könnte. Was sich zuerst als eine kleine Gruppe von Kunststudenten verstand, wuchs schnell zu etwas Größerem, was sich sowohl einer künstlerischen Praxis, als auch dem Community Building und der Öffnung des Diskursraumes gewidmet hat.
Das Semetchki Kollektiv will nicht mit einer Ausstellung enden. Es strebt an, weiter in die Öffentlichkeit zu gehen und gezielt Räume für Diskurse zu suchen. Es will weiterhin Räume für Sichtbarkeit und Repräsentation schaffen, Aufmerksamkeit auf ähnliche Gruppen lenken und Menschen das Gefühl vermitteln, wahrgenommen zu werden.
Wenn man herauszoomt, dann kann man das Kollektiv Semetchki als ein Projekt betrachten, indem Migrationskinder sich durch künstlerische Auseinandersetzung selbst neu definieren und den Diskursraum mitprägen.
—
Mehr über das Semetchki Kollektiv auf deren Website und auf Instagram.
Alle Fotos © Semetchki Kollektiv.
Du würdest gerne mehr zum Thema Identitäten erfahren? Hier findest du weitere Beiträge dazu.
Gefällt dir der Beitrag? Folge auch unseren online-Auftritten, um immer auf dem Laufenden zu bleiben! Mit uns kommst du auf Instagram, YouTube, TikTok und Facebook ins Gespräch. Du bist kein Social-Media-Fan? Alles klar, denn über unseren Telegram-Kanal erhältst du ganz bequem spannende Inhalte direkt aufs Handy zugeschickt und auf Spotify kannst du sie dir auch einfach anhören. Werde Teil unserer Community, empfehle unsere Inhalte weiter und diskutiere mit!