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Was bedeutet der „Tag des Sieges“? Die verschiedenen Gesichter des 9. Mai

An jedem 9. Mai jährt sich der sowjetische Sieg über das nationalsozialistische Deutschland. In der früheren Sowjetunion und in Russland spricht man vom „Tag des Sieges“ und in der DDR war vom „Tag der Befreiung“ die Rede. Immer wieder wurde dieser Gedenktag in den vergangenen Jahrzehnten mit neuen Bedeutungen gefüllt. Heute handelt es sich um einen umstrittenen, politischen und emotional besetzten historischen Jahrestag, der insbesondere in Putins Russland großes Gewicht hat. Prof. Dr. Jan Claas Behrends vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung hat den Tag für o[s]tklick näher beleuchtet.
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Die pompösen Feiern des 9. Mai begannen 1965 in der Sowjetunion, zum 20. Jahrestag des Sieges über Hitler. Unter der Herrschaft Leonid Breschnews wurde der „Tag des Sieges“ zum bedeutendsten Feiertag im sowjetischen Festkalender ausgebaut. Er zelebrierte die offizielle Geschichte vom heldenhaften sowjetischen Sieg und der „Befreiung Europas vom Faschismus“. Die tatsächliche Zahl der Kriegsopfer wurde dabei ebenso verschwiegen wie die Realität des massenhaften Sterbens und der Entbehrungen im Krieg. Die Geschichte des „Großen Vaterländischen Krieges“ war außerdem eine russische Erzählung. Das abweichende Schicksal anderer Völker und Nationen kam im sowjetischen Bild kaum vor. Weder die Deportationen der baltischen Völker, der Krimtataren oder der Wolgadeutschen, noch die Millionen ermordeten sowjetischen Juden spielten in der Gedenkkultur eine Rolle. In der Öffentlichkeit war es stets ein staatliches Gedenken, das die sowjetische Herrschaft legitimieren sollte und sämtliche problematischen Aspekte der Geschichte ausblendete.

 

Der „Tag des Sieges“ zelebrierte die offizielle Geschichte vom heldenhaften sowjetischen Sieg und der „Befreiung Europas vom Faschismus“. Die tatsächliche Zahl der Kriegsopfer wurde dabei ebenso verschwiegen wie die Realität des massenhaften Sterbens und der Entbehrungen im Krieg.

Jenseits der offiziellen Erzählung gab es in den Familien oder in den Dörfern eine ganze andere, eigene Erinnerung, die häufig im stillen Konflikt mit den staatlichen Feiern stand. Die Veteraninnen und Veteranen, die früheren Gefangenen und Deportierten, die Millionen von Menschen, die ihre Heimat verloren hatten, kannten eine Wahrheit über den „Großen Vaterländischen Krieg“, die in den Verlautbarungen des sowjetischen Staates keinen Platz hatte. Es waren Stimmen, die durch den Kriegskult zum Schweigen gebracht wurden. Erst gegen Ende der sowjetischen Ära, unter der Herrschaft Michail Gorbatschows, war es erlaubt, zur eigenen Erinnerung zu stehen und auch die zahlreichen Verbrechen des sowjetischen Regimes zu benennen. Es war ein Verdienst der Ära Gorbatschow, das nun auch abweichende Stimmen erstmals zu Wort kamen.

Nach dem Ende der UdSSR im Dezember 1991 verließen Millionen von Menschen das Land. Sie emigrierten nach Europa, Amerika, Israel und eben auch nach Deutschland. Die Erinnerung an die sowjetischen Feiertage nahmen sie natürlich mit in ihre neue Heimat. Doch die Zeit, in der man zum Feiern verpflichtet werden konnte, war für sie nun vorbei.

Nach dem Ende der UdSSR im Dezember 1991 verließen Millionen von Menschen das Land. Sie emigrierten nach Europa, Amerika, Israel und eben auch nach Deutschland. Die Erinnerung an die sowjetischen Feiertage nahmen sie natürlich mit in ihre neue Heimat. Doch die Zeit, in der man zum Feiern verpflichtet werden konnte, war für sie nun vorbei. Jede Familie, jede Person, konnte für sich selbst entscheiden, ob der 9. Mai für sie noch eine besondere Bedeutung hat. Seit den 1990er Jahren haben sich frühere sowjetische Bürger auch an den Denkmälern in Deutschland friedlich versammelt oder sich zu Hause getroffen, um der Toten zu gedenken und zum Frieden zu mahnen. Auch in diesem Jahr wird das wieder geschehen.

Das würdige Gedenken an die Kriegsopfer ist im Russland Wladimir Putins seit den 2000er Jahren einem aggressiven Militärkult gewichen. Wie in der sowjetischen Zeit gibt es keinen Platz mehr für die unterschiedlichen Kriegserfahrungen. Alle Feiern werden von einer staatlichen Erzählung des Heldentums dominiert. Diese Politisierung der Geschichte wird seit 2014 außerdem dazu genutzt, den russischen Krieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Dies wird wohl auch in diesem Jahr bei den Feiern in Moskau der Fall sein. Die russische Bevölkerung wird insgesamt auf diese eine offizielle Sicht verpflichtet, eine abweichende Meinung zu äußern kann – wie in der sowjetischen Zeit – hohe Strafen nach sich ziehen. Da es kaum noch überlebende Veteranen gibt, kann sich die Erzählung Putins von der Realität des Krieges, wie Menschen ihn erlebt haben, weitgehend abkoppeln. In Russland bestimmt der Staat, wer ein „Faschist“ und damit ein Feind ist. Sogar der jüdische Präsident der Ukraine wird so verleumdet. Hier zeigt sich, dass es beim Kriegskult Putin nicht um das Gedenken an die Opfer geht, sondern um die Rechtfertigung seiner Politik. Es ist unsere Aufgabe, dieser aggressiven Geschichtspolitik würdige Formen des Gedenkens und der Erinnerung entgegenzustellen.