Es ist 2003, vielleicht 2004. Ich bin ein Teenie in einem Gymnasium im Wedding. Die Lehrerin hält bei Unterrichtsbeginn mal wieder eine Moralpredigt darüber, warum es ein ganz großes Problem sei, dass die Schüler:innen Türkisch oder Arabisch miteinander sprechen statt Deutsch. Auch in den Pausen seien wir dazu verpflichtet, Deutsch zu reden, betont sie. Dann zeigt sie auf mich und die beiden Russlanddeutschen in der Klasse und bedeutet uns vor versammelter Klasse aufzustehen: Auch wir hätten einen Migrationshintergrund und trotzdem würden wir Deutsch sprechen. Die anderen sollten sich ein Vorbild an uns nehmen!
Unsinn, denke ich. Die beiden Russlanddeutschen schnattern die ganze Zeit heimlich auf Russisch und ich hätte auch liebend gern eine Geheimsprache, die die Lehrer:innen nicht verstehen, bin nur leider der einzige Jugo in der Klasse. Aber ich sage nichts, sondern bin froh keinen Ärger zu kriegen. Es fühlt sich sogar ein bisschen gut an, ein Vorbild zu sein.
Auch die
PostOst-Community muss sich stets darüber im Klaren sein, wie
unterschiedlich die Erfahrungen ihrer Anhänger:innen sind, sie muss ihre
Prinzipien, ihre Werte und ihr Selbstverständnis immer wieder neu
aushandeln.
Dass ich in dieser Situation als „Vorzeige-Minderheit“ herangezogen wurde und weiße Privilegien genossen habe, wird mir erst Jahre später bewusst. In einer Schulklasse fast ohne mehrheitsdeutsche Kinder waren wir, also die Russendeutschen und ich, das Nächstbeste, was an die christlich-sozialisierte, weiße und deutsche Mehrheitsgesellschaft herankam. Immer wieder wurden wir gegen die anderen Minderheiten ausgespielt und spielten mit, weil es uns nützte und wir es nicht besser wussten. Gleichzeitig erlebten auch wir negative Zuschreibungen als Osteuropäer:innen – als arm, rückständig und defizitär.
Als junge Erwachsene begann ich diese Erlebnisse zu reflektieren und kam dabei auf die Bewegung „Kanak Attack“. Ende der 1990er-Jahre formte sich ein anti-nationalistischer und anti-rassistischer Zusammenschluss migrantischer, häufig deutschtürkischer Menschen, die sich das Schimpfwort „Kanake“ wieder aneigneten und es positiv besetzten. Anhänger:innen der Bewegung nutzten vor allem künstlerische Aktionen, um die rassistische Doppelmoral in der Mehrheitsgesellschaft zu entlarven.
Das Ideal der postmigrantischen Community
Ich war schon drauf und dran, die Idee für immer zu begraben, als ich die PostOst-Community in Berlin entdeckte. Sergej Prokopkin, einer der Wegbereiter dieser Community, fragte mich, ob ich Lust hätte zu einem PostOst-Stammtisch zu kommen. Meine Erwartung war ein lockerer Abend, um sich mit anderen Menschen auszutauschen. Nach dem Treffen fühlte ich mich so, als hätte ich endlich die Gruppe von Menschen getroffen, auf die ich seit Jahren gewartet habe – die meine Vision teilten, wenn auch nicht auf den Balkan-, sondern den PostOst-Background bezogen. PostOst ist ein Überbegriff für Menschen mit einer Migrationsgeschichte in den ehemaligen Ostblock-Staaten. Strenggenommen zählen Menschen mit einem ex-jugoslawischen Hintergrund also nicht dazu, da Jugoslawien nie ein Ostblock-Staat war. Dennoch fühlen sich einige, so wie ich, aufgrund ähnlicher Erfahrungen mit Antislawismus und Migratismus, der Community sehr verbunden.
Der Abschied einer harmonischen migrantischen Community?
Es gab sie also, die Postmigrant:innen in Deutschland, die sich mit ähnlichen Fragen beschäftigten! Seither grüble ich darüber nach, welche positiven Eigenschaften die PostOst-Community ausmachen, von der auch andere migrantische Communitys profitieren könnten. Zum einen lassen sich die meisten Menschen, die ich in diesem Zusammenhang kennengelernt habe, nicht länger in „gute“ und „schlechte Ausländer“ spalten. Sie scheuen nicht davor zurück, den Rassismus zu benennen, der sie selbst nicht betrifft.
Zum anderen ist mir durch meine Teilhabe in der PostOst-Community klargeworden, dass ich mich von der Idee einer harmonischen migrantischen Community verabschieden muss.
Zum anderen ist mir durch meine Teilhabe in der PostOst-Community klargeworden, dass ich mich von der Idee einer harmonischen migrantischen Community verabschieden muss. Es gibt keinen Weg, eine zutiefst heterogene Gruppe wie Menschen mit „Balkan“-Background zusammenzubringen, ohne gleichzeitig an der eigenen und kollektiven Ambivalenztoleranz zu arbeiten. Zur „Balkan“-Community gehören eben nicht nur queer-feministische Menschen, die den Nationalismus ihrer Eltern durchschaut und „Orientalismus“ von Edward Said gelesen haben. Auch die PostOst-Community muss sich stets darüber im Klaren sein, wie unterschiedlich die Erfahrungen ihrer Anhänger:innen sind, sie muss ihre Prinzipien, ihre Werte und ihr Selbstverständnis immer wieder neu aushandeln.
Raum für Konflikte und Widersprüche
Anstatt den Konflikten aus dem Weg zu gehen, möchte ich ihnen nun Raum geben. Und dafür braucht es ganz reale Räume und Ressourcen für Community-Building, damit eine solidarische Debattenkultur wachsen kann. Nicht nur für die äußeren, auch für die inneren Konflikte und Widersprüche: Postmigrantischsein fühlt sich für mich wie ein riesiger Knoten an, den ich nicht auflösen kann. Was ist überhaupt meine Identität, wenn ich zwischen den Welten hin- und hergerissen bin, mich auf Kulturen beziehe, in denen ich nie gelebt habe, und gleichzeitig seit der Kindheit verinnerlicht habe, dass ich nie deutsch genug sein kann? Wie vereine ich mein Ideal einer queeren Wahlfamilie mit meinem Wunsch, mich auf Spurensuche nach der Geschichte meiner Herkunftsfamilie zu begeben? Wie kann in meiner Fantasie der Balkan überhaupt ein progressives Ideal, so etwas wie Punk, sein, wenn ich queere Menschen kenne, die glücklich darüber sind, den Balkan für immer verlassen zu haben? Der entscheidende Grund, warum ich mich in der PostOst-Community so zuhause gefühlt habe, ist nicht der gemeinsame osteuropäische Background. Sondern dass ich andere Menschen traf, die mit einem ganz ähnlichen Knoten, mit einem ganz ähnlichen Schmerz durch die Welt gehen. Lasst uns Räume schaffen, in denen postmigrantische Identitätskonflikte nicht „zu komplex“ sind, in denen wir auf Augenhöhe streiten können!
Manchmal frage ich mich, was gewesen wäre, wenn ich mich schon als Teenager geweigert hätte, eine Vorzeige-Minderheit zu sein. Wenn ich der Lehrerin gesagt hätte: „Wie Sie meine Mitschüler behandeln ist nicht fair! Ich möchte kein Vorbild sein!“ Hätte das die Klassengemeinschaft gestärkt? Wären wir alle gute Freunde geworden? Wir waren Teenies, also: Nein, wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht hätten wir zumindest miteinander gestritten statt um die Gunst der Lehrer:innen.
Paula Balov ist Berliner Journalistin und SIEGESSÄULE-Redakteurin. Sie schreibt
über LGBTIQ*-Belange sowie post(ost)migrantische und Balkan-Themen.
Du interessierst dich dafür, wie man innerhalb der Community bei Konflikten richtig streiten kann? Hier geht es zu unserem Sharepic “Richtiges Streiten”.
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